Die Judenbuche
Annette von Droste-Hülshoff
Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten
Westfalen.
Wo die Hand so zart, daß ohne Irren
Sie sondern
mag beschränkten Hirnes Wirren,
So fest, daß
ohne Zittern sie den Stein
Mag schleudern
auf ein arm verkümmert Sein?
Zu wägen
jedes Wort, das unvergessen
In junge Brust
die zähen Wurzeln trieb,
Des Vorteils
geheimen Seelendieb?
Du Glücklicher,
geboren und gehegt
Im lichten
Raum, von frommer Hand gepflegt,
Leg hin die
Waagschal, nimmer dir erlaubt!
Laß ruhn
den Stein - er trifft dein eignes Haupt!
Friedrich Mergel,
geboren 1738, war der einzige Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder Grundeigentümers
geringerer Klasse im Dorfe B., das, so schlecht gebaut und rauchig es
sein mag, doch das Auge jedes Reisenden fesselt durch die überaus
malerische Schönheit seiner Lage in der grünen Waldschlucht
eines bedeutenden und geschichtlich merkwürdigen Gebirges. Das Ländchen,
dem es angehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdwinkel
ohne Fabriken und Handel, ohne Heerstraßen, wo noch ein fremdes Gesicht
Aufsehen erregte und eine Reise von dreißig Meilen selbst den Vornehmeren
zum Ulysses seiner Gegend machte - kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so
viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tugenden, all der
Originalität und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen
gedeihen. Unter höchst einfachen und häufig unzulänglichen
Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen
in Verwirrung geraten, oder vielmehr, es hatte sich neben dem gesetzlichen
ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der
Gewohnheit und der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung.
Die Gutsbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und
belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene
tat, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiten Gewissen verträglich
schien, und nur dem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubichten
Urkunden nachzuschlagen.
Es ist schwer,
jene Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden
entweder hochmütig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der
sie erlebte, zuviel teure Erinnerungen blenden und der Spätergeborene
sie nicht begreift. Soviel darf man indessen behaupten, daß die Form
schwächer, der Kern fester, Vergehn häufiger, Gewissenlosigkeit
seltener waren. Denn wer nach seiner Überzeugung handelt, und sei
es noch so mangelhaft, kann nie ganz zugrunde gehen, wogegen nichts seelentötender
wirkt, als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht
in Anspruch nehmen.
Ein Menschenschlag,
unruhiger und unternehmender als alle seine Nachbarn, ließ in dem
kleinen Staate, von dem wir reden, manches weit greller hervortreten als
anderswo unter gleichen Umständen. Holz- und Jagdfrevel waren an der
Tagesordnung, und bei den häufig vorfallenden Schlägereien hatte
sich jeder selbst seines zerschlagenen Kopfes zu trösten. Da jedoch
große und ergiebige Waldungen den Hauptreichtum des Landes ausmachten,
ward allerdings scharf über die Forsten gewacht, aber weniger auf gesetzlichem
Wege als in stets erneuten Versuchen, Gewalt und List mit gleichen Waffen
zu überbieten.
Das Dorf B.
galt für die hochmütigste, schlauste und kühnste Gemeinde
des ganzen Fürstentums. Seine Lage inmitten tiefer und stolzer Waldeinsamkeit
mochte schon früh den angeborenen Starrsinn der Gemüter nähren;
die Nähe des Flusses, der in die See mündete und bedeckte Fahrzeuge
trug, groß genug, um Schiffbauholz bequem und sicher außer
Landes zu führen, trug sehr dazu bei, die natürliche Kühnheit
der Holzfrevler zu ermutigen, und der Umstand, daß alles umher von
Förstern wimmelte, konnte hier nur aufregend wirken, da bei den häufig
vorkommenden Scharmützeln der Vorteil meist auf seiten der Bauern
blieb. Dreißig, vierzig Wagen zogen zugleich aus in den schönen
Mondnächten mit ungefähr doppelt soviel Mannschaft jedes Alters,
vom halbwüchsigen Knaben bis zum siebzigjährigen Ortsvorsteher,
der als erfahrener Leitbock den Zug mit gleich stolzem Bewußstsein
anführte, als er seinen Sitz in der Gerichtsstube einnahm. Die Zurückgebliebenen
horchten sorglos dem allmählichen Verhallen des Knarrens und Stoßens
der Räder in den Hohlwegen und schliefen sacht weiter. Ein gelegentlicher
Schuß, ein schwacher Schrei ließen wohl einmal eine junge Frau
oder Braut auffahren; kein anderer achtete darauf. Beim ersten Morgengrauen
kehrte der Zug ebenso schweigend heim, die Gesichter glühend wie Erz,
hier und dort einer mit verbundenem Kopf, was weiter nicht in Betracht kam,
und nach ein paar Stunden war die Umgegend voll von Mißgeschick eines
oder mehrerer Forstbeamten, die aus dem Walde getragen wurden, zerschlagen,
mit Schnupftabak geblendet und für einige Zeit unfähig, ihrem
Berufe nachzukommen.
In dieser Umgebung
ward Friedrich Mergel geboren, in einem Haus, das durch die stolze Zugabe
eines Rauchfangs und minder kleiner Glasscheiben die Ansprüche seines
Erbauers sowie durch seine gegenwärtige Verkommenheit die kümmerlichen
Umstände des jetzigen Besitzers bezeugte. Das frühere Geländer
um Hof und Garten war einem vernachlässigten Zaune gewichen, das
Dach schadhaft, fremdes Vieh weidete auf den Triften, fremdes Korn wuchs
auf dem Acker zunächst am Hofe, und der Garten enthielt, außer
ein paar holzichten Rosenstöcken aus besserer Zeit, mehr Unkraut als
Kraut. Freilich hatten Unglücksfälle manches hiervon herbeigeführt;
doch war auch viel Unordnung und böse Wirtschaft im Spiel. Friedrichs
Vater, der alte Hermann Mergel, war in seinem Junggesellenstande ein sogenannter
ordentlicher Säufer, das heißt einer, der nur an Sonn- und
Feiertagen in der Rinne lag und die Woche hindurch so manierlich war wie
ein anderer. So war denn auch seine Bewerbung um ein recht hübsches
und wohlhabendes Mädchen ihm nicht erschwert. Auf der Hochzeit ging
es lustig zu. Mergel war gar nicht so arg betrunken, und die Eltern der
Braut gingen abends vergnügt heim; aber am nächsten Sonntag sah
man die Frau schreiend und blutrünstig durchs Dorf zu den Ihrigen rennen,
alle ihre guten Kleider und neues Hausgerät im Stich lassend. Das war
freilich ein großer Skandal und Ärger für Mergel, der allerdings
Trostes bedurfte. So war denn auch am Nachmittage keine Scheibe an seinem
Hause mehr ganz, und man sah ihn noch bis spät in die Nacht vor der
Türschwelle liegen, einen abgebrochenen Flaschenhals von Zeit zu Zeit
zum Munde führen und sich Gesicht und Hände jämmerlich zerschneidend.
Die junge Frau blieb bei ihren Eltern, wo sie bald verkümmerte und
starb. Ob nun den Mergel die Reue quälte oder Scham, genug, er schien
der Trostmittel immer bedürftiger und fing bald an, den gänzlich
verkommenen Subjekten zugezählt zu werden
Die Wirtschaft
verfiel; fremde Mägde brachten Schimpf und Schande; so verging Jahr
auf Jahr. Mergel war und blieb ein verlegener und zuletzt ziemlich armseliger
Witwer, bis er mit einemmale wieder als Bräutigam auftrat. War die
Sache an und für sich unerwartet, so trug die Persönlichkeit
der Braut noch dazu bei, die Verwunderung zu erhöhen. Margreth Semmler
war eine brave, anständige Person, so in den Vierzigern, in ihrer
Jugend eine Dorfschönheit und noch jetzt als sehr klug und wirtlich
geachtet, dabei nicht unvermögend; und so mußte es jedem unbegreiflich
sein, was sie zu diesem Schritte getrieben. Wir glauben den Grund eben
in dieser ihrer selbstbewußten Vollkommenheit zu finden. Am Abend
vor ihrer Hochzeit soll sie gesagt haben: "Eine Frau, die von ihrem Manne
übel behandelt wird, ist dumm oder taugt nicht: wenns mir so schlecht
geht, so sagt, es liege an mir." Der Erfolg zeigte leider, daß sie
ihre Kräfte überschätzt hatte. Anfangs imponierte sie ihrem
Manne; er kam nicht nach Hause oder kroch in die Scheune, wenn er sich übernommen
hatte; aber das Joch war zu drückend, um lange getragen zu werden,
und bald sah man ihn oft genug quer über die Gasse ins Haus taumeln,
hörte drinnen sein wüstes Lärmen und sah Margreth eilends
Tür und Fenster schließen. An einem solchem Tage - keinem Sonntage
mehr - sah man sie abends aus dem Hause stür-zen, ohne Haube und Halstuch,
das Haar wild um den Kopf hängend, sich im Garten neben ein Krautbeet
niederwerfen und die Erde mit den Händen aufwühlen, dann ängstlich
um sich schauen, rasch ein Bündel Kräuter brechen und damit langsam
wieder dem Hause zugehen, aber nicht hinein, sondern in die Scheune. Es
hieß, an diesem Tage habe Mergel zuerst Hand an sie gelegt, obwohl
das Bekenntnis nie über ihre Lippen kam.
Das zweite
Jahr dieser unglücklichen Ehe ward mit einem Sohne - man kann nicht
sagen - erfreut; denn Margreth soll sehr geweint haben, als man ihr das
Kind reichte. Dennoch, obwohl unter einem Herzen voll Gram getragen, war
Friedrich ein gesundes hübsches Kind, das in der frischen Luft kräftig
gedieh. Der Vater hatte ihn sehr lieb, kam nie nach Hause, ohne ihm ein
Stückchen Wecken oder dergleichen mitzubringen, und man meinte sogar,
er sei seit der Geburt des Knaben ordentlicher geworden; wenigstens ward
das Lärmen im Hause geringer.
Friedrich stand
in seinem neunten Jahre. Es war um das Fest der heiligen drei Könige,
eine harte, stürmische Winternacht. Hermann war zu einer Hochzeit
gegangen und hatte sich schon beizeiten auf den Weg gemacht, da das Brauthaus
dreiviertel Meilen entfernt lag. Obgleich er versprochen hatte, abends
wiederzukommen, rechnete Frau Mergel doch um so weniger darauf, da sich
nach Sonnenuntergang dichtes Schneegestöber eingestellt hatte. Gegen
zehn Uhr schürte sie die Asche am Herde zusammen und machte sich zum
Schlafengehen bereit. Friedrich stand neben ihr, schon halb entkleidet,
und horchte auf das Geheul des Windes und das Klappen der Bodenfenster.
"Mutter, kommt
der Vater heute nicht?" fragte er. - "Nein, Kind, morgen." - "Aber warum
nicht, Mutter? Er hats doch versprochen." - "Ach Gott, wenn der alles
hielte, was er verspricht! Mach, mach voran, daß du fertig wirst!"
Sie hatten
sich kaum niedergelegt, so erhob sich eine Windsbraut, als ob sie das
Haus mitnehmen wollte. Die Bettstatt bebte, und im Schornstein rasselte
es wie ein Kobold. - "Mutter - es pocht draußen!" - "Still, Fritzchen,
das ist das lockere Brett im Giebel, das der Wind jagt." - "Nein, Mutter,
an der Tür!" - "Sie schließt nicht; die Klinke ist zerbrochen.
Gott, schlaf doch! Bring mich nicht um das armselige bißchen Nachtruhe."
- "Aber wenn nun der Vater kommt?" - Die Mutter drehte sich heftig im Bett
um. - "Den hält der Teufel fest genug!" - "Wo ist der Teufel, Mutter?"
- "Wart, du Unrast! Er steht vor der Tür und will dich holen, wenn du
nicht ruhig bist!"
Friedrich ward
still; er horchte noch ein Weilchen und schlief dann ein. Nach einigen
Stunden erwachte er. Der Wind hatte sich gewendet und zischte jetzt wie
eine Schlange durch die Fensterritze an seinem Ohr. Seine Schulter war erstarrt;
er kroch tief unters Deckbett und lag aus Furcht ganz still. Nach einer
Weile merkte er, daß die Mutter auch nicht schlief. Er hörte
sie weinen und mitunter "Gegrüßt seist du, Maria!" und "bitte
für uns arme Sünder!" Die Kügelchen des Rosenkranzes glitten
an seinem Gesicht hin. - Ein unwillkürlicher Seufzer entfuhr ihm. -
"Friedrich, bist du wach?" - "Ja, Mutter." - "Kind, bete ein wenig - du kannst
ja schon das halbe Vaterunser - daß Gott uns bewahre vor der Wasser-
und Feuersnot."
Friedrich dachte
an den Teufel, wie der wohl aussehen möge. Das mannigfaltige Geräusch
und Getöse im Hause kam ihm wunderlich vor. Er meinte, es müsse
etwas Lebendiges drinnen sein und draußen auch. "Hör, Mutter,
gewiß, da sind Leute, die pochen." - "Ach nein, Kind; aber es ist
kein altes Brett im Hause, das nicht klappert." - "Hör! hörst
du nicht? Es ruft! Hör doch!"
Die Mutter
richtete sich auf; das Toben des Sturms ließ einen Augenblick nach.
Man hörte deutlich an den Fensterläden pochen und mehrere Stimmen:
"Margreth! Frau Margreth, heda, aufgemacht!" - Margreth stieß einen
heftigen Laut aus: "Da bringen sie mir das Schwein wieder!"
Der Rosenkranz
flog klappernd auf den Brettstuhl, die Kleider wurden heftig herbeigerissen.
Sie fuhr zum Herde, und bald darauf hörte Friedrich sie mit trotzigen
Schritten über die Tenne gehen. Margreth kam gar nicht wieder; aber
in der Küche war viel Gemurmel und fremde Stimmen. Zweimal kam ein
fremder Mann in die Kammer und schien ängstlich etwas zu suchen. Mit
einemmale ward eine Lampe hereingebracht; zwei Männer führten
die Mutter. Sie war weiß wie Kreide und hatte die Augen geschlossen.
Friedrich meinte, sie sei tot; er erhob ein fürchterliches Geschrei,
worauf ihm jemand eine Ohrfeige gab, was ihn zur Ruhe brachte, und nun begriff
er nach und nach aus den Reden der Umstehenden, daß der Vater von
Ohm Franz Semmler und dem Hülsmeyer tot im Holze gefunden sei und jetzt
in der Küche liege.
Sobald Margreth
wieder zur Besinnung kam, suchte sie die fremden Leute loszuwerden. Der
Bruder blieb bei ihr, und Friedrich, dem bei strenger Strafe im Bett zu bleiben
geboten war, hörte die ganze Nacht hindurch das Feuer in der Küche
knistern und ein Geräusch wie von Hin- und Herrutschen und Bürsten.
Gesprochen ward wenig und leise, aber zuweilen drangen Seufzer herüber,
die dem Knaben, so jung er war, durch Mark und Bein gingen. Einmal verstand
er, das der Oheim sagte: "Margreth, zieh dir das nicht zu Gemüt; wir
wollen jeder drei Messen lesen lassen, und um Ostern gehen wir zusammen
eine Bittfahrt zur Mutter Gottes von Werl."
Als nach zwei
Tagen die Leiche fortgetragen wurde, saß Margreth am Herde, das Gesicht
mit der Schürze verhüllend. Nach einigen Minuten, als alles still
geworden war, sagte sie in sich hinein: "Zehn Jahre, zehn Kreuze! Wir haben
sie doch zusammen getragen, und jetzt bin ich allein!" Dann lauter: "Fritzchen,
komm her!" - Friedrich kam scheu heran; die Mutter war ihm unheimlich geworden
mit den schwarzen Bändern und den verstörten Zügen. "Fritzchen",
sagte sie, "willst du auch fromm sein, daß ich Freude an dir habe,
oder willst du unartig sein und lügen, oder saufen und stehlen?" -
"Mutter, Hülsmeyer stiehlt." - "Hülsmeyer? Gott bewahre! Soll
ich dir auf den Rücken kommen? Wer sagt dir so schlechtes Zeug?" -
"Er hat neulich mit Aaron geprügelt und ihm sechs Groschen ge-nommen."
- "Hat er dem Aaron Geld genommen, so hat ihn der verfluchte Jude gewiß
zuvor darum betrogen. Hülsmeyer ist ein ordentlicher angesehener Mann,
und die Juden sind alle Schelme." - "Aber, Mutter, Brandis sagt auch, daß
er Holz und Rehe stiehlt." - "Kind, Brandis ist ein Förster." - "Mutter,
lügen Förster?"
Margreth schwieg
eine Weile, dann sagte sie: "Höre, Fritz, das Holz läßt
unser Herrgott frei wachsen, und das Wild wechselt aus eines Herren Lande
in das andere; die können niemand angehören. Doch das verstehst
du noch nicht; jetzt geh in den Schuppen und hole mir Reisig."
Friedrich hatte
seinen Vater auf dem Stroh gesehen, wo er, wie man sagt, blau und fürchterlich
ausgesehen haben soll. Aber davon erzählte er nie und schien ungern
daran zu denken. Überhaupt hatte die Erinnerung an seinen Vater eine
mit Grausen gemischte Zärtlichkeit in ihm zurückgelassen, wie
denn nichts so fesselt wie die Liebe und Sorgfalt eines Wesens, das gegen
alles verhärtet scheint, und bei Friedrich wuchs dieses Gefühl
mit den Jahren durch das Gefühl macher Zurücksetzung von seiten
anderer. Es war ihm äußerst empfindlich, wenn, solange er Kind
war, jemand des Verstorbenen nicht allzu löblich gedachte; ein Kummer,
den ihm das Zartgefühl der Nachbarn nicht ersparte. Es ist gewöhnlich
in jenen Gegenden, den Verunglückten die Ruhe im Grabe abzusprechen.
Der alte Mergel war das Gespenst des Brederholzes geworden; einen Betrunkenen
führte er als Irrlicht bei einem Haar in den Zellerkolk; die Hirtenknaben,
wenn sie nachts bei ihren Feuern kauerten und die Eulen in den Gründen
schrieen, hörten zuweilen in abgebrochenen Tönen ganz deutlich
dazwischen sein "Hör mal an, feins Liseken", und ein unprivilegierter
Holzhauer, unter der breiten Eiche eingeschlafen und dem es darüber
Nacht geworden war, hatte beim Erwachen sein geschwollenens Gesicht durch
die Zweige lauschen sehen. Friedrich mußte von den anderen Knaben
vieles darüber hören; dann heulte er, schlug um sich, stach auch
einmal mit seinem Messerchen und wurde bei dieser Gele-genheit jämmerlich
verprügelt. Seitdem trieb er seiner Mutter Kühe allein an das
andere Ende des Tales, wo man ihn oft stundenlang in derselben Stellung
im Grase liegen und den Thymian aus dem Boden rupfen sah.
Er war zwölf
Jahre alt, als seine Mutter einen Besuch von ihrem jüngeren Bruder
erhielt, der in Brede wohnte und seit der törichten Heirat seiner
Schwester ihre Schwelle nicht mehr betreten hatte. Simon Semmler war ein
kleiner, unruhiger, magerer Mann mit vor dem Kopf liegenden Fischaugen
und überhaupt einem Gesicht wie ein Hecht, ein unheimlicher Geselle,
bei dem dicktuende Verschlossenheit oft mit ebenso gesuchter Treuherzigkeit
wechselte, der gern einen aufgeklärten Kopf vorgestellt hätte
und statt dessen für einen fatalen, Händel suchenden Kerl galt,
dem jeder um so lieber aus dem Wege ging, je mehr er in das Alter trat,
wo ohnehin beschränkte Menschen leicht an Ansprüchen ge-winnen,
was sie an Brauchbarkeit verlieren. Dennoch freute sich die arme Margreth,
die sonst keinen der ihrigen mehr am Leben hatte.
"Simon, bist
du da?" sagte sie und zitterte, daß sie sich am Stuhl halten mußte.
"Willst du sehen, wie es mir geht und meinem schmutzigen Jungen?" - Simon
betrachtete sie ernst und reichte ihr die Hand. "Du bist alt geworden,
Margreth!" - Margreth seufzte: "Es ist mir derweil oft bitterlich gegangen
mit allerlei Schicksalen." - "Ja, Mädchen, zu spät gefreit hat
immer gereut! Jetzt bist du alt, und das Kind ist klein. Jedes Ding hat
seine Zeit. Aber wenn ein altes Haus brennt, dann hilft kein Löschen."
- Über Margreths vergrämtes Gesicht flog eine Flamme, so rot
wie Blut.
"Aber ich höre,
dein Junge ist schlau und gewichst", fuhr Simon fort. - "Ei nun, so ziemlich,
und dabei fromm." - "Hum, es hat mal einer eine Kuh gestohlen, der hieß
auch Fromm. Aber er ist still und nachdenklich, nicht wahr? Er läuft
nicht mit den anderen Buben?" - "Er ist ein eigenes Kind", sagte Margreth
wie für sich, "es ist nicht gut." - Simon lachte hell auf: "Dein Junge
ist scheu, weil ihn die anderen ein paarmal gut durchgedroschen haben.
Das wird ihnen der Bursche schon wieder bezahlen. Hülsmeyer war neulich
bei mir, der sagte: Es ist ein Junge wie ein Reh."
Welcher Mutter
geht nicht das Herz auf, wenn sie ihr Kind loben hört? Der armen
Margreth ward selten so wohl, jedermann nannte ihren Jungen tückisch
und verschlossen. Die Tränen traten ihr in die Augen. "Ja, gottlob,
er hat gerade Glieder." - "Wie sieht er aus?" fuhr Simon fort. - "Er hat
viel von dir, Simon, viel."
Simon lachte:
"Ei, das muß ein rarer Kerl sein, ich werde alle Tage schöner.
An der Schule soll er sich wohl nicht verbrennen. Du läßt ihn
die Kühe hüten? Ebenso gut. Es ist doch nicht halb wahr, was der
Magister sagt. Aber wo hütet er? Im Telgengrund? im Roderholz? im Teutoburger
Wald? auch des Nachts und früh?" - "Die ganzen Nächte durch;
aber wie meinst du das?"
Simon schien
dies zu überhören; er reckte den Hals zur Türe hinaus:
"Ei, da kommt der Gesell! Vaterssohn! Er schlenkert gerade so mit den Armen
wie dein seliger Mann. Und schau mal an! Wahrhaftig, der Junge hat meine
blonden Haare!"
In der Mutter
Züge kam ein heimliches, stolzes Lächeln; ihres Friedrichs blonde
Locken und Simons rötliche Bürsten! Ohne zu antworten, brach sie
einen Zweig von der nächsten Hecke und ging ihrem Sohne entgegen, scheinbar,
eine träge Kuh anzutreiben, im Grunde aber, ihm einige rasche, halbdrohende
Worte zuzuraunen; denn sie kannte seine störrische Natur, und Simons
Weise war ihr heute einschüchternder vorgekommen als je. Doch ging
alles über Erwarten gut; Friedrich zeigte sich weder verstockt noch
frech, vielmehr etwas blöde und sehr bemüht, dem Ohm zu gefallen.
So kam es denn dahin, daß nach einer halbstündigen Unterredung
Simon eine Art Adoption des Knaben in Vor-schlag brachte, vermöge deren
er denselben zwar nicht gänzlich seiner Mutter entziehen, aber doch
über den größten Teil seiner Zeit verfügen wollte, wofür
ihm dann am Ende des alten Junggesellen Erbe zufallen solle, das ihm freilich
ohnedies nicht entgehen konnte. Margreth ließ sich geduldig auseinandersetzen,
wie groß der Vorteil, wie gering die Entbehrung ihrerseits bei dem
Handel sei. Sie wußte am besten, was eine kränkliche Witwe an
der Hüfte eines zwölfjährigen Knaben entbehrt, den sie bereits
gewöhnt hat, die Stelle einer Tochter zu ersetzen. Doch sie schwieg
und gab sich in alles. Nur bat sie den Bruder, streng, doch nicht hart gegen
den Knaben zu sein.
"Er ist gut",
sagte sie, "aber ich bin eine einsame Frau; mein Kind ist nicht wie einer,
ü-ber den Vaterhand regiert hat." Simon nickte schlau mit dem Kopf:
"Laß mich nur gewähren, wir wollen uns schon vertragen, und weißt
du was? Gib mir den Jungen gleich mit, ich habe zwei Säcke aus der
Mühle zu holen; der kleinste ist ihm grad recht, und so lernt er mir
zur Hand zu gehen. Komm, Fritzchen, zieh deine Holzschuh an!" - Und bald
sag Margreth den beiden nach, wie sie fortschritten, Simon voran, mit seinem
Gesicht die Luft durchschneidend, während ihm die Schöße
des roten Rocks wie Feuerflammen nach-zogen. So hatte er ziemlich das Ansehen
eines feurigen Mannes, der unter dem gestohlenen Sacke büßt;
Friedrich ihm nach, fein und schlank für sein Alter, mit zarten, fast
edlen Zügen und langen, blonden Locken, die besser gepflegt waren,
als sein übriges Äußere erwarten ließ; übrigens
zerlumpt, sonnenverbrannt und mit einer gewissen rohen Melancholie in den
Zügen. Dennoch war eine große Familienähnlichkeit beider
nicht zu verkennen, und wie Friedrich so langsam seinem Führer nachtrat,
die Blicke fest auf denselben geheftet, der ihn gerade durch das Seltsame
seiner Erscheinung anzog, erinnerte er unwillkürlich an jemand, der
in einem Zauberspiegel das Bild seiner Zukunft mit verstörter Aufmerksamkeit
betrachtete. Jetzt nahten die beiden sich der Stelle des Teutoburger Waldes,
wo das Brederholz den Abhang des Gebirges niedersteigt und einen sehr dunkeln
Grund ausfüllt. Bis jetzt war wenig gesprochen worden. Simon schien
nachdenkend, der Knabe zerstreut, und beide keuchten unter ihren Säcken.
Plötzlich fragte Simon: "Trinkst du gern Branntwein?" - Der Knabe antwortete
nicht. "Ich frage, trinkst du gern Branntwein? Gibt dir die Mutter zuweilen
welchen?" - "Die Mutter hat selbst keinen", sagte Friedrich. - "So, so, desto
besser! - Kennst du das Holz da vor uns?" - "Das ist das Brederholz." - "Weißt
du auch, was darin vorgefallen ist?" - Friedrich schwieg. Indessen ka-men
sie der düsteren Schlucht immer näher. "Betet die Mutter immer
noch so viel?" hob Simon wieder an. - "Ja, jeden Abend zwei Rosenkränze."
- "So? Und du betest mit?" - Der Knabe lachte halbverlegen mit einem durchtriebenen
Seitenblick. - "Die Mutter betet in der Dämmerung vor dem Essen den
einen Rosenkranz, dann bin ich meist noch nicht wieder da mit den Kühen,
und den anderen im Bette, dann schlafe ich gewöhnlich ein." - "So, so,
Geselle!" - Diese letzten Worte wurden unter dem Schirme einer weiten Buche
gesprochen, die den Eingang der Schlucht überwölbte. Es war jetzt
ganz finster; das ers-te Mondviertel stand am Himmel, aber seine schwachen
Schimmer dienten nur dazu, den Gegenständen, die sie zuweilen durch
eine Lücke der Zweige berührten, ein fremdartiges Aussehen zu geben.
Friedrich hielt sich dicht hinter seinem Ohm; sein Odem ging schnell, und
wer seine Züge hätte unterscheiden können, würde den
Ausdruck einer ungeheuren, doch mehr phantastischen als furchtsamen Spannung
darin wahrgenommen haben. So schritten beide rüstig voran, Simon mit
dem festen Schritt des abgehärteten Wanderers, Friedrich schwankend und
wie im Traum. Es kam ihm vor, als ob alles sich bewegte und die Bäume
in den einzelnen Mondstrahlen bald zusammen, bald voneinander schwankten.
Baumwurzeln und schlüpfrige Stellen, wo sich das Regenwasser gesammelt,
machten seinen Schritt unsicher; er war einige Male nahe daran, zu fallen.
Jetzt schien sich in einiger Entfernung das Dunkel zu brechen, und bald traten
beide in eine ziemlich große Lichtung. Der Mond schien klar herein und
zeigte, daß hier noch vor kurzem die Axt unbarmherzig gewütet
hatte. Überall ragten Baumstümpfe hervor, manche mehrere Fuß
über der Erde, wie sie gerade in der Eile am bequemsten zu durchschneiden
gewesen waren; die verpönte Arbeit mußte unversehens unterbrochen
worden sein, denn eine Buche lag quer über dem Pfad, in vollem Laube,
ihre Zweige hoch über sich streckend und im Nachtwinde mit den noch
frischen Blättern zitternd. Simon blieb einen Moment stehen und betrachtete
den gefällten Stamm mit Aufmerksamkeit. In der Mitte der Lichtung stand
eine alte Eiche, mehr breit als hoch; ein blasser Strahl, der durch die Zweige
auf ihren Stamm fiel, zeigte, daß er hohl sei, was ihn wahrscheinlich
von der allgemeinen Zerstörung geschützt hatte. Hier ergriff Simon
plötzlich des Knaben Arm. "Friedrich, kennst du den Baum? Das ist die
breite Eiche." - Friedrich fuhr zusammen und klammerte sich mit kalten Händen
an seinen Ohm. "Sieh", fuhr Simon fort, "hier haben Ohm Franz und der Hülsmeyer
deinen Vater gefunden, als er in der Betrunkenheit ohne Buße und Ölung
zum Teufel gefahren war." - "Ohm, Ohm!" keuchte Friedrich. - "Was fällt
dir ein? Du wirst dich doch nicht fürchten? Satan von einem Jungen,
du kneipst mir in den Arm! Laß los, los!" - Er suchte den Knaben abzuschütteln.
- Vater war übrigens eine gute Seele; Gott wirds nicht so genau mit
ihm nehmen. Ich hatte ihn so lieb wie meinen eigenen Bruder." - Friedrich
ließ den Arm seines Ohms los; beide legten schweigend den übrigen
Teil des Waldes zurück, und das Dorf Brede lag vor ihnen mit seinen
Lehmhütten und den einzelnen bessern Wohnungen von Ziegelsteinen, zu
denen auch Simons Haus gehörte.
Am nächsten
Abend saß Margreth schon seit einer Stunde mit ihrem Rocken vor
der Tür und wartete auf ihren Knaben. Es war die erste Nacht, die
sie zugebracht hatte, ohne den Atem ihres Kindes neben sich zu hören,
und Friedrich kam immer noch nicht. Sie war ärgerlich und ängstlich
und wußte, daß sie beides ohne Grund war. Die Uhr im Turm schlug
sieben, das Vieh kehrte heim, er war noch immer nicht da, und sie mußte
aufstehen, um nach den Kühen zu schauen. Als sie wieder in die dunkle
Küche trat, stand Friedrich am Herde; er hatte sich vorübergebeugt
und wärmte seine Hände an den Kohlen. Der Schein spielte auf
seinen Zügen und gab ihnen ein widriges Ansehen von Mager-keit und
ängstlichem Zucken. Margreth blieb in der Tennentür stehen, so
seltsam verändert kam ihr das Kind vor.
"Friedrich,
wie geht es dem Ohm?" Der Knabe murmelte einige unverständliche Worte
und drängte sich dicht an die Feuermauer. - "Friedrich, hast du das
Reden verlernt? Jun-ge, tu das Maul auf! Du weißt ja doch, daß
ich auf dem rechten Ohr nicht gut höre." - Das Kind erhob seine Stimme
und geriet dermaßen ins Stammeln, daß Margreth es um nichts mehr
begriff. - "Was sagst du? Ein Gruß von Meister Semmler? Wieder fort?
Wohin? Die Kühe sind schon zu Hause. Verfluchter Junge, ich kann dich
nicht verstehen. Wart, ich muß einmal sehen ob du keine Zunge im Munde
hast!" - Sie trat heftig einige Schritte vor. Das Kind sah zu ihr auf mit
dem Jammerblick eines armen, halbwüchsigen Hundes, der Schildwacht stehen
lernt, und begann in der Angst mit den Füßen zu stampfen und
den Rücken an der Feuermauer zu reiben.
Margreth stand
still; ihre Blicke wurden ängstlich. Der Knabe erschien ihr wie
zusam-mengeschrumpft, auch seine Kleider waren nicht dieselben, nein,
das war ihr Kind nicht und dennoch - . "Friedrich, Friedrich!" rief sie.
In der Schlafkammer klappte eine Schranktür, und der Gerufene trat
hervor, in der einen Hand eine sogenannte Holschenvioline, das heißt
einen alten Holzschuh, mit drei bis vier zerschabten Geigensaiten überspannt,
in der anderen einen Bogen, ganz des Instrumentes würdig. So ging
er gerade auf sein verkümmertes Spiegelbild zu, seinerseits mit einer
Haltung bewußter Würde und Selbständigkeit, die in diesem
Augenblicke den Unterschied zwischen beiden sonst merkwürdig ähnlichen
Knaben stark hervortreten ließ.
"Da, Johannes!"
sagte er und reichte ihm mit einer Gönnermiene das Kunstwerk, "da
ist die Violine, die ich dir versprochen habe. Mein Spielen ist vorbei, ich
muß jetzt Geld verdienen." - Johannes warf noch einmal einen scheuen
Blick auf Margreth, streckte dann langsam seine Hand aus, bis er das Dargebotene
fest ergriffen hatte, und brachte es wie verstohlen unter die Flügel
seines armseligen Jäckchens.
Margreth stand
ganz still und ließ die Kinder gewähren. Ihre Gedanken hatten
eine ande-re, sehr ernste Richtung genommen, und sie blickte mit unruhigem
Auge von einem auf den anderen. Der fremde Knabe hatte sich wieder über
die Kohlen gebeugt mit einem Ausdruck augenblicklichen Wohlbehagens, der
an Albernheit grenzte, während sich in Friedrichs Zügen der
Wechsel eines offenbar mehr selbstischen als gutmütigen Mitgefühls
spielte und sein Auge in fast glasartiger Klarheit zum erstenmale bestimmt
den Ausdruck jenes ungebändigten Ehrgeizes und Hanges zum Großtun
zeigte, der nachher als so starkes Motiv seinen meisten Handlungen hervortrat.
Der Ruf seiner Mutter störte ihn aus Gedanken, die ihm ebenso neu als
angenehm waren. Sie saß wieder am Spinnrade.
"Friedrich",
sagte sie zögernd, "sag einmal -" und schwieg dann. Friedrich sah
auf und wandte sich, da er nichts weiter vernahm, wieder zu seinem Schützling.
- "Nein, höre
-" und dann leiser: "Was ist das für ein Junge? Wie heißt
er?" - Friedrich antwortete ebenso leise: "Das ist des Ohms Simon Schweinehirt,
der eine Botschaft an den Hülsmeyer hat. Der Ohm hat mir ein paar
Schuhe und eine Weste von Drillich gegeben, die hat mir der Junge unterwegs
getragen; dafür hab ich ihm meine Violine verspro-chen; er ist ja
doch ein armes Kind; Johannes heißt er." - "Nun?" sagte Margreth.
- "Was willst du, Mutter?" - "Wie heißt er weiter?" - "Ja -weiter
nicht - oder warte - doch: Niemand, Johannes Niemand heißt er. - Er
hat keinen Vater", fügte er leiser hinzu.
Margreth stand
auf und ging in die Kammer. Nach einer Weile kam sie heraus mit einem
harten, finsteren Ausdruck in den Mienen. "So, Friedrich", sagte sie,
"laß den Jungen gehen, daß er seine Bestellung machen kann.
- Junge, was liegst du da in der Asche? Hast du zu Hause nichts zu tun?"
- Der Knabe raffte sich mit der Miene eines Verfolgten so eilfertig auf,
daß ihm alle Glieder im Wege standen und die Holschenvioline bei einem
Haar ins Feuer gefallen wäre. - "Warte, Johannes", sagte Friedrich stolz,
"ich will dir mein halbes Butterbrot geben, es ist mir doch zu groß,
die Mutter schneidet allemal übers gan-ze Brot." - "Laß doch,"
sagte Margreth, "er geht ja nach Hause." - "Ja, aber er bekommt nichts mehr;
Ohm Simon ißt um 7 Uhr." Margreth wandte sich zu dem Knaben: "Hebt
man dir nichts auf? Sprich: wer sorgt für dich?" - "Niemand", stotterte
das Kind. - "Niemand?" wiederholte sie; "da nimm, nimm!" fügte sie
heftig hinzu; "du heißt Niemand, und niemand sorgt für dich!
Das sei Gott geklagt! Und nun mach dich fort! Friedrich, geh nicht mit ihm,
hörst du, geht nicht zusammen durchs Dorf." - "Ich will ja nur Holz
holen aus dem Schuppen", antwortete Friedrich. - Als beide Knaben fort waren,
warf sich Margreth auf einen Stuhl und schlug die Hände mit dem Ausdruck
des tiefsten Jammers zusammen. Ihr Gesicht war bleich wie ein Tuch. "Ein
falscher Eid, ein falscher Eid!" stöhnte sie. "Simon, Simon, wie willst
du vor Gott bestehen!"
So saß
sie eine Weile, starr mit geklemmten Lippen, wie in völliger Geistesabwesenheit.
Friedrich stand vor ihr und hatte sie schon zweimal angeredet. "Was ist?
Was willst du?" rief sie auffahrend. - "Ich bringe Euch Geld", sagte er,
mehr erstaunt als erschreckt. - "Geld? Wo?" Sie regte sich, und die kleine
Münze fiel klingend auf den Boden. Friedrich hob sie auf. - "Geld
vom Ohm Simon, weil ich ihm habe arbeiten helfen. Ich kann nun selber was
verdienen." - "Geld vom Simon? Wirfs fort, fort! - Nein, gibs den Armen.
Doch nein, behalts", flüsterte sie kaum hörbar, "wir sind selber
arm; wer weiß, ob wir bei dem Betteln vorbeikommen!" - "Ich soll
Montag wieder zum Ohm und ihm bei der Einsaat helfen." - "Du sollst wieder
zu ihm? Nein, nein, nimmermehr!" - Sie umfaßte ihr Kind mit Heftigkeit.
- "Doch", fügte sie hinzu, und ein Tränenstrom stürzte ihr
plötzlich über die eingefallenen Wangen, "geh, er ist mein einziger
Bruder, und die Verleumdung ist zu groß! Aber halt Gott vor Augen
und vergiß das tägliche Gebet nicht!"
Margreth legte
das Gesicht an die Mauer und weinte laut. Sie hatte manche harte Last
getragen, ihres Mannes üble Behandlung, noch schwerer seinen Tod,
und es war eine bittere Stunde, als die Witwe das letzte Stück Ackerland
einem Gläubiger zur Nutznießung überlassen mußte und
der Pflug vor ihrem Hause stillestand. Aber so war ihr nie zumute gewesen;
dennoch, nachdem sie einen Abend durchgeweint, eine Nacht durchgewacht hatte,
war sie dahin gekommen, zu denken, ihr Bruder Simon könne so gottlos
nicht sein, der Knabe gehöre gewiß nicht ihm, Ähnlichkeiten
wollen nichts beweisen. Hatte sie doch selbst vor vierzig Jahren ein Schwesterchen
verloren, das genau dem fremden Hechelkrämer glich. Was glaubt man
nicht gern, wenn man so wenig hat und durch Unglauben dies wenige verlieren
soll!
Von dieser
Zeit an war Friedrich selten mehr zu Hause. Simon schien alle wärmeren
Gefühle, deren er fähig war, dem Schwestersohn zugewendet zu haben;
wenigstens vermißte er ihn sehr und ließ nicht nach mit Botschaften,
wenn ein häusliches Geschäft ihn auf einige Zeit bei der Mutter
hielt. Der Knabe war seitdem wie verwandelt, das träumerische Wesen
gänzlich von ihm gewichen, er trat fest auf, fing an sein Äußeres
zu beachten und bald in den Ruf eines hübschen, gewandten Burschen
zu kommen. Sein Ohm, der nicht wohl ohne Projekte leben konnte, unternahm
mitunter ziemlich bedeutende öffentliche Arbeiten, zum Beispiel beim
Wegbau, wobei Friedrich für einen seiner besten Arbeiter und überall
als seine rechte Hand galt; denn obgleich dessen Körperkräfte noch
nicht ihr volles Maß erreicht hatten, kam ihm doch nicht leicht jemand
an Ausdauer gleich. Margreth hatte bisher ihren Sohn nur geliebt, jetzt
fing sie an, stolz auf ihn zu werden und sogar eine Art Hochachtung vor ihm
zu fühlen, da sie den jungen Menschen so ganz ohne ihr Zutun sich entwickeln
sah, sogar ohne ihren Rat, den sie, wie die meisten Menschen, für unschätzbar
hielt und deshalb die Fähigkeiten nicht hoch genug anzuschlagen wußte,
die eines so kostbaren Förderungsmittels entbehren konnten.
In seinem achtzehnten
Jahr hatte Friedrich sich bereits einen bedeutenden Ruf in der jungen
Dorfwelt gesichert durch den Ausgang einer Wette, infolge deren er einen
erlegten Eber über zwei Meilen weit auf dem Rücken trug, ohne
abzusetzen. Indessen war der Mitgenuß des Ruhm auch so ziemlich der
einzige Vorteil, den Margreth aus diesen günstigen Umständen
zog, da Friedrich immer mehr auf sein Äußeres verwandte und allmählich
anfing, es schwer zu verdauen, wenn Geldmangel ihn zwang, irgend jemand
im Dorf darin nachzustehen. Zudem waren seine Kräfte auf den auswärtigen
Erwerb gerichtet; zu Hause schien ihm, ganz im Widerspiel mit seinem sonstigen
Rufe, jede anhaltende Beschäftigung lästig, und er unterzog sich
lieber einer harten, aber kurzen Anstrengung, die ihm bald erlaubte, seinem
früheren Hirtenamte wieder nachzugehen, was bereits begann, seinem
Alter unpassend zu werden, und ihm gelegentlichen Spott zuzog, vor dem
er sich aber durch ein paar derbe Zurechtweisungen mit der Faust Ruhe verschaffte.
So gewöhnte man sich daran, ihn bald geputzt und fröhlich als
anerkannten Dorfelegant an der Spitze des jungen Volkes zu sehen, bald wieder
als zerlumpten Hirtenbuben einsam und träumerisch hinter den Kühen
herschleichend oder in einer Waldlichtung liegend, scheinbar gedankenlos
und das Moos von den Bäumen rupfend.
Um diese Zeit
wurden die schlummernden Gesetze doch einigermaßen aufgerüttelt
durch eine Bande von Holzfrevlern, die unter dem Namen der Blaukittel alle
ihre Vorgänger so weit an List und Frechheit übertraf, daß
es dem Langmütigsten zuviel werden mußte. Ganz gegen den gewöhnlichen
Stand der Dinge, wo man die stärksten Böcke der Herde mit dem
Finger bezeichnen konnte, war es hier trotz aller Wachsamkeit bisher unmöglich
gewesen, auch nur e i n Individuum namhaft zu machen. Ihre Benennung erhielten
sie von der ganz gleichförmigen Tracht, durch die sie das Erkennen
erschwerten, wenn etwa ein Förster noch einzelne Nachzügler im
Dickicht verschwinden sah. Sie verheerten alles wie die Wanderraupe, ganze
Waldstrecken wurden in einer Nacht gefällt und auf der Stelle fortgeschafft,
so daß man am andern Morgen nichts fand als Späne und wüste
Haufen von Topholz, und der Umstand, daß nie Wagenspuren einem Dorfe
zuführten, sondern immer vom Flusse her und dorthin zurück, bewies,
daß man unter dem Schutze und vielleicht mit dem Beistand der Schiffeigentümer
handelte. In der Bande mußten sehr gewandte Spione sein, denn die
Förster konnten wochenlang umsonst wachen; in der ersten Nacht, gleichviel,
ob stürmisch oder mondhell, wo sie vor Übermüdung nachließen,
brach die Zerstörung ein. Seltsam war es, daß das Landvolk umher
ebenso unwissend und gespannt schien als die Förster selber. Von einigen
Dörfern ward mit Bestimmtheit gesagt, daß sie nicht zu den Blaukitteln
gehörten, aber keines konnte als dringend verdächtig bezeichnet
werden, seit man das verdächtigste von allen, das Dorf B. freisprechen
mußte. Ein Zufall hatte dies bewirkt, eine Hochzeit, auf der fast
alle Bewohner die-ses Dorfes notorisch die Nacht zugebracht hatten, während
zu eben dieser Zeit die Blaukittel eine ihrer stärksten Expeditionen
ausführten.
Der Schaden
in den Forsten war indes allzugroß, deshalb wurden die Maßregeln
dagegen auf eine bisher unerhörte Weise gesteigert; Tag und Nacht
wurde patrouilliert, Ackerknechte, Hausbediente mit Gewehren versehen
und den Forstbeamten zugestellt. Dennoch war der Erfolg nur gering, und
die Wächter hatten oft kaum das eine Ende des Fors-tes verlassen, wenn
die Blaukittel schon zum andern einzogen. Das währte länger als
ein volles Jahr, Wächter und Blaukittel, Blaukittel und Wächter,
wie Sonne und Mond immer abwechselnd im Besitz des Terrains und nie zusammentreffend.
Es war im Juli
1756 früh um drei; der Mond stand klar am Himmel, aber sein Glanz
fing an zu ermatten, und im Osten zeigte sich bereits ein schmaler gelber
Streif, der den Horizont besäumte und den Eingang einer engen Talschlucht
wie mit einem Goldbande schloß. Friedrich lag im Grase, nach seiner
gewohnten Weise, und schnitzelte an einem Weidenstabe, dessen knotigem
Ende er die Gestalt eines ungeschlachten Tieres zu geben versuchte. Es sah
übermüdet aus, gähnte, ließ mitunter seinen Kopf
an einem verwitterten Stammknorren ruhen und Blicke, dämmriger als
der Horizont, über den mit Gestrüpp und Aufschlag fest verwachsenen
Eingang des Grundes streifen. Ein paarmal belebten sich seine Augen und
nahmen den ihnen eigentümlichen glasartigen Glanz an, aber gleich
nachher schloß er sie wieder halb und gähnte und dehnte sich,
wie es nur faulen Hirten erlaubt ist. Sein Hund lag in einiger Entfernung
nah bei den Kühen, die, unbekümmert um die Forstgesetze, ebenso
oft den jungen Baumspitzen als dem Grase zusprachen und in die frische
Morgenluft schnaubten. Aus dem Walde drang von Zeit zu Zeit ein dumpfer,
krachender Schall; der Ton hielt nur einige Sekunden an, begleitet von einem
langen Echo an den Bergwänden, und wiederholte sich etwa alle fünf
bis acht Minuten. Friedrich achtete nicht darauf; nur zuweilen, wenn das
Getöse ungewöhnlich stark oder anhaltend war, hob er den Kopf
und ließ seine Blicke langsam über die verschiedenen Pfade gleiten,
die ihren Ausgang in dem Talgrunde fanden.
Es fing bereits
stark zu dämmern an; die Vögel begannen leise zu zwitschern,
und der Tau stieg fühlbar aus dem Grunde. Friedrich war an dem Stamm
hinabgeglitten und starrte, die Arme über den Kopf geschlungen, in
das leise einschleichende Morgenrot. Plötzlich fuhr er auf: über
sein Gesicht fuhr ein Blitz, er horchte einige Sekunden mit vorgebeugtem
Oberleib wie ein Jagdhund, dem die Luft Witterung zuträgt. Dann schob
er schnell zwei Finger in den Mund und pfiff gellend und anhaltend. - "Fidel,
du verfluchtes Tier!" - Ein Steinwurf traf die Seite des unbesorgten Hundes,
der, vom Schlafe aufgeschreckt, zuerst um sich biß und dann heulend
auf drei Beinen dort Trost suchte, von wo das Übel ausgegangen war.
In demselben Augenblicke wurden die Zweige eines nahen Gebüsches fast
ohne Geräusch zurückgeschoben, und ein Mann trat heraus, im grünen
Jagdrock, den silbernen Wappenschild am Arm, die gespannte Büchse in
der Hand. Er ließ schnell seine Blicke über die Schlucht fahren
und sie dann mit besonderer Schärfe auf dem Kna-ben verweilen, trat
dann vor, winkte nach dem Gebüsch und allmählich wurden sieben
bis acht Männer sichtbar, alle in ähnlicher Kleidung, Weidmesser
im Gürtel und die gespannten Gewehre in der Hand.
"Friedrich,
was war das?" fragte der zuerst Erschienene. "Ich wollte, daß der
Racker auf der Stelle krepierte. Seinetwegen können die Kühe
mir die Ohren vom Kopf fressen." "Die Canaille hat uns gesehen", sagte ein
anderer. "Morgen sollst du auf die Reise mit einem Stein am Halse", fuhr
Friedrich fort und stieß nach dem Hunde. "Friedrich, stell dich nicht
an wie ein Narr! Du kennst mich, und du verstehst mich auch!" Ein Blick
begleitete diese Worte, der schnell wirkte. "Herr Brandis, denkt an meine
Mutter!" "Das tu ich. Hast du nichts im Walde gehört?" "Im Walde?"
Der Knabe warf einen raschen Blick auf des Förs-ters Gesicht. "Eure
Holzfäller, sonst nichts." "Meine Holzfäller!"
Die ohnehin
dunkle Gesichtsfarbe des Försters ging in tiefes Braunrot über.
"Wie viele sind ihrer, und wo treiben sie ihr Wesen?" "Wohin Ihr sie geschickt
habt; ich weiß es nicht." Brandis wandte sich zu seinen Gefährten:
"Geht voran; ich komme gleich nach."
Als einer nach
dem andern im Dickicht verschwunden war, trat Brandis dicht vor den Knaben:
"Friedrich", sagte er mit dem Ton unterdrückter Wut, "meine Geduld
ist zu Ende; ich möchte dich prügeln wie einen Hund, und mehr
seid ihr auch nicht wert. Ihr Lumpenpack,dem kein Ziegel auf dem Dach gehört!
Bis zum Betteln habt ihr es, gottlob, bald gebracht und an meiner Tür
soll deine Mutter, die alte Hexe, keine verschimmelte Brotrinde bekommen.
Aber vorher sollt ihr mir noch beide ins Hundeloch."
Friedrich griff
krampfhaft nach einem Aste. Er war totenbleich, und seine Augen schienen
wie Kristallkugeln aus dem Kopfe schießen zu wollen. Doch nur einen
Augenblick. Dann kehrte die größte, an Erschlaffung grenzende
Ruhe zurück. "Herr", sagte er fest, mit fast sanfter Stimme, "Ihr habt
gesagt, was Ihr nicht verantworten könnt und ich vielleicht auch. Wir
wollen es gegeneinander aufgehen lassen, und nun will ich Euch sagen, was
Ihr verlangt. Wenn Ihr die Holzfäller nicht selbst bestellt habt, so
müssen es die Blaukittel sein; denn aus dem Dorfe ist kein Wagen gekommen;
ich habe den Weg ja vor mir, und vier Wagen sind es. Ich habe sie nicht gesehen,
aber den Hohlweg hinauffahren hören." Er stockte einen Augenblick. "Könnt
Ihr sagen, daß ich je einen Baum in Eurem Revier gefällt habe?
Überhaupt, daß ich je anderwärts gehauen habe als auf Bestellung?
Denkt nach, ob Ihr das sagen könnt."
Ein verlegenes
Murmeln war die ganze Antwort des Försters, der nach Art der meisten
rauhen Menschen leicht bereute. Er wandte sich unwirsch und schritt dem
Gebüsche zu. "Nein, Herr", rief Friedrich, "wenn Ihr zu den anderen
Förstern wollt, die sind dort an der Buche hinaufgegangen." "An der
Buche?" sagte Brandis zweifelhaft, "nein, dort hinüber, nach dem Mastergrunde."
"Ich sage Euch, an der Buche; des langen Heinrich Flintenriemen blieb noch
am krummen Ast dort hängen; ich habs ja gesehen!"
Der Förster
schlug den bezeichneten Weg ein. Friedrich hatte die ganze Zeit hindurch
seine Stellung nicht verlassen; halb liegend, den Arm um einen dürren
Ast geschlungen, sah er dem Fortgehenden unverrückt nach, wie er
durch den halbverwachsenen Steig glitt, mit den vorsichtigen, weiten Schritten
seines Metiers, so geräuschlos wie ein Fuchs die Hühnersteige
erklimmt. Hier sank ein Zweig hinter ihm, dort einer; die Umrisse seiner
Gestalt schwanden immer mehr. Da blitzte es noch einmal durchs Laub. Es
war ein Stahlknopf seines Jagdrocks; nun war er fort. Friedrichs Gesicht
hatte während dieses allmählichen Verschwindens den Ausdruck seiner
Kälte verloren und seine Züge schienen zuletzt unruhig bewegt.
Gereute es ihn vielleicht, den Förster nicht um Verschweigung seiner
Angaben gebeten zu haben? Er ging einige Schritte voran, blieb dann stehen.
"Es ist zu spät", sagte er vor sich hin und griff nach seinem Hute.
Ein leises Picken im Gebüsche, nicht zwanzig Schritte von ihm. Es
war der Förster, der den Flintenstein schärfte. Friedrich horchte.
- "Nein!" sagte
er dann mit entschlossenem Tone, raffte seine Siebensachen zusammen und
trieb das Vieh eilfertig die Schlucht entlang. Um Mittag saß Frau
Margreth am Herd und kochte Tee. Friedrich war krank heimgekommen, er klagte
über heftige Kopfschmer-zen und hatte auf ihre besorgte Nachfrage erzählt,
wie er sich schwer geärgert über den Förster, kurz den
ganzen eben beschriebenen Vorgang mit Ausnahme einiger Kleinigkeiten,
die er besser fand für sich zu behalten. Margreth sah schweigend und
trübe in das siedende Wasser. Sie war es wohl gewohnt, ihren Sohn
mitunter klagen zu hören, aber heute kam er ihr so angegriffen vor
wie sonst nie. Sollte wohl eine Krankheit im Anzuge sein? Sie seufzte tief
und ließ einen eben ergriffenen Holzblock fallen.
"Mutter!" rief
Friedrich aus der Kammer. "Was willst du?" "War das ein Schuß?"
"Aber nein, ich weiß nicht, was du meinst." "Es pocht mir wohl nur
so im Kopfe", versetzte er.
Die Nachbarin
trat herein und erzählte mit leisem Flüstern irgendeine unbedeutende
Klatscherei, die Margreth ohne Teilnahme anhörte. Dann ging sie.
"Mutter!" rief Friedrich. Margreth ging zu ihm hin ein. "Was erzählte
die Hülsmeyer?" "Ach gar nichts, Lügen, Wind!" Friedrich richtete
sich auf. "Von der Gretchen Siemers; du weißt ja wohl, die alte Geschichte;
und ist doch nichts Wahres dran." Friedrich legte sich wieder hin. "Ich
will sehen ob ich schlafen kann", sagte er.
Margreth saß
am Herde; sie spann und dachte wenig Erfreuliches. Im Dorfe schlug es
halb zwölf; die Tür klinkte, und der Gerichtsschreiber Kapp
trat herein. "Guten Tag, Frau Mergel," sagte er, "könnt Ihr mir einen
Trunk Milch geben? Ich komme von M." Als Frau Mergel das Verlangte brachte,
fragte er: "Wo ist Friedrich?" Sie war gerade beschäftigt einen Teller
hervorzulangen und überhörte die Frage. Er trank zögernd
und in kurzen Absätzen. "Wißt Ihr wohl", sagte er dann, "daß
die Blaukittel in dieser Nacht wieder im Masterholze eine ganze Strecke
so kahl gefegt haben, wie meine Hand?" "Ei, du frommer Gott!" versetzte sie
gleichgültig. "Die Schandbuben", fuhr der Schreiber fort "ruinieren
alles; wenn sie noch Rücksicht nähmen auf das junge Holz, aber
Eichenstämmchen wie mein Arm dick, wo nicht einmal eine Ruderstange
drin steckt! Es ist, als ob ihnen anderer Leute Schaden ebenso lieb wäre
wie ihr Profit!" "Es ist schade!" sagte Margreth.
Der Amtsschreiber
hatte getrunken und ging noch immer nicht. Er schien etwas auf dem Herzen
zu haben. "Habt Ihr nichts von Brandis gehört?« fragte er plötzlich.
"Nichts; er kommt niemals hier ins Haus." "So wißt Ihr nicht, was
ihm begegnet ist?" "Was denn?" fragte Margreth gespannt. "Er ist tot!"
"Tot!" rief sie, "was tot? Um Gottes willen! Er ging ja noch heute morgen
ganz gesund hier vorüber mit der Flinte auf dem Rücken!" "Er
ist tot", wiederholte der Schreiber, sie scharf fixierend, "von den Blaukitteln
erschlagen. Vor einer Viertelstunde wurde die Leiche ins Dorf gebracht."
Margreth schlug
die Hände zusammen. "Gott im Himmel, geh nicht mit ihm ins Gericht!
Er wußte nicht, was er tat!" "Mit ihm?" rief der Amtsschreiber, "mit
dem verfluchten Mörder, meint Ihr?" Aus der Kammer drang ein schweres
Stöhnen. Margreth eilte hin, und der Schreiber folgte ihr. Friedrich
saß aufrecht im Bette; das Gesicht in die Hände gedrückt
und ächzte wie ein Sterbender. "Friedrich, wie ist dir?" sagte die
Mutter. "Wie ist dir?" wiederholte der Amtsschreiber. "O mein Leib, mein
Kopf!" jammerte er. "Was fehlt ihm?" "Ach, Gott weiß es", versetzte
sie; "er ist schon um vier mit den Kühen heimgekommen, weil ihm so
übel war." "Friedrich, Friedrich, antworte doch! Soll ich zum Dok-tor?"
"Nein, nein", ächzte er, "es ist nur Kolik, es wird schon besser."
Er legte sich
zurück; sein Gesicht zuckte krampfhaft vor Schmerz; dann kehrte die
Farbe wieder. "Geht", sagte er matt, "ich muß schlafen, dann gehts
vorüber." "Frau Mergel", sagte der Amtsschreiber ernst, "ist es gewiß,
daß Friedrich um vier zu Hause kam und nicht wieder fortging?" Sie
sah ihn starr an. "Fragt jedes Kind auf der Straße. Und fortge-hen?
wollte Gott, er könnt es!" "Hat er Euch nichts von Brandis erzählt?"
"In Gottes Namen, ja, daß er ihn im Walde geschimpft und unsere Armut
vorgeworfen hat, der Lump! Doch Gott verzeih mir, er ist tot! Geht!" fuhr
sie heftig fort; "seid Ihr gekommen, um ehrliche Leute zu beschimpfen?
Geht!" Sie wandte sich wieder zu ihrem Sohne; der Schreiber ging. "Friedrich,
wie ist dir?" sagte die Mutter.
"Hast du wohl
gehört? Schrecklich, schrecklich! Ohne Beichte und Absolution!" "Mutter,
Mutter um Gottes willen, laß mich schlafen; ich kann nicht mehr!"
In diesem Augenblick
trat Johannes Niemand in die Kammer; dünn und lang wie eine Hopfenstange
aber zerlumpt und scheu, wie wir ihn vor fünf Jahren gesehen. Sein
Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich. "Friedrich", stotterte er,
"du sollst sogleich zum Ohm kommen, er hat Arbeit für dich; aber sogleich."
Friedrich drehte sich gegen die Wand. "Ich komme nicht", sagte er barsch,
"ich bin krank." "Du mußt aber kommen", keuchte Johannes, "er hat
gesagt, ich müßte dich mitbringen." Friedrich lachte höhnisch
auf: "Das will ich doch sehen!" "Laß ihn in Ruhe, er kann nicht",
seufzte Margreth, "du siehst ja, wie es steht." Sie ging auf einige Minuten
hinaus; als sie zurückkam, war Friedrich bereits angekleidet. "Was
fällt dir ein?" rief sie, "du kannst, du sollst nicht gehen!" "Was
sein muß, schickt sich wohl" versetzte er und war schon zur Türe
hinaus mit Johannes. "Ach Gott", seufzte die Mutter, "wenn die Kinder klein
sind, treten sie uns in den Schoß, und wenn sie groß sind, ins
Herz!" Die gerichtliche Untersuchung hatte ihren Anfang genommen, die Tat
lag klar am Tage; über den Täter aber waren die Anzeichen so
schwach, daß obschon alle Umstände die Blaukittel dringend verdächtigten,
man doch nicht mehr als Mutmaßungen wagen konnte. Eine Spur schien
Licht geben zu wollen: doch rechnete man aus Gründen wenig darauf. Die
Abwesenheit des Gutsherrn hatte den Gerichtsschreiber genötigt, auf
eigene Hand die Sache einzuleiten. Er saß am Tische; die Stube war
gedrängt voll von Bauern, teils neugierigen, teils solchen, von denen
man in Ermangelung eigentlicher Zeugen einigen Aufschluß zu erhalten
hoffte. Hirten, die in derselben Nacht gehütet, Knechte, die den Acker
in der Nähe bestellt, alle standen stramm und fest, die Hände in
den Taschen, gleichsam als stillschweigende Erklärung, daß sie
nicht einzuschreiten gesonnen seien. Acht Forstbeamte wurden vernommen. Ihre
Aussagen waren völlig gleichlautend: Brandis habe sie am zehnten abends
zur Runde bestellt, da ihm von einem Vorhaben der Blaukittel müsse Kunde
zugekommen sein; doch habe er sich nur unbestimmt darüber geäußert.
Um zwei Uhr in der Nacht seien sie ausgezogen und auf manche Spuren der Zerstörung
gestoßen, die den Oberförster sehr übel gestimmt; sonst sei
alles still gewesen. Gegen vier Uhr habe Brandis gesagt: "Wir sind an-geführt,
laßt uns heimgehen." Als sie nun um den Bremerberg gewendet und zugleich
der Wind umgeschlagen, habe man deutlich im Masterholz fällen gehört
und aus der schnellen Folge der Schläge geschlossen, daß die Blaukittel
am Werk seien. Man habe nun eine Weile beratschlagt, ob es tunlich sei,
mit so geringer Macht die kühne Bande anzugreifen, und sich dann ohne
bestimmten Entschluß dem Schalle langsam genähert. Nun folgte
der Auftritt mit Friedrich. Ferner: nachdem Brandis sie ohne Weisung fortgeschickt,
seien sie eine Weile vorangeschritten und dann, als sie bemerkt, daß
das Getöse im noch ziemlich weit entfernten Walde gänzlich aufgehört,
stille gestanden, um den Oberförster zu erwarten. Die Zögerung habe
sie verdrossen, und nach etwa zehn Minuten seien sie weitergegangen und so
bis an den Ort der Verwüstung. Alles sei vorüber gewesen, kein Laut mehr im
Walde, von zwanzig gefällten Stämmen noch acht vorhanden, die
übrigen bereits fortgeschafft. Es sei ihnen unbegreiflich, wie man
dieses ins Werk gestellt, da keine Wagenspuren zu finden gewesen. Auch habe
die Dürre der Jahreszeit und der mit Fichtennadeln bestreute Boden keine
Fußstapfen unterscheiden lassen, obgleich der Grund ringsumher wie
festgestampft war. Da man nun überlegt, daß es zu nichts nützen
könne, den Oberförster zu erwarten, sei man rasch der anderen Seite
des Waldes zugeschritten, in der Hoffnung, vielleicht noch einen Blick von
den Frevlern zu erhaschen. Hier habe sich einem von ihnen beim Ausgange des
Waldes die Flaschenschnur in Brombeerranken verstrickt, und als er umgeschaut,
habe er etwas im Gestrüpp blitzen sehen; es war die Gurtschnalle des
Oberförsters, den man nun hinter den Ranken liegend fand, grad ausgestreckt,
die rechte Hand um den Flintenlauf geklemmt, die ande-re geballt und die
Stirn von einer Axt gespalten.
Dies waren
die Aussagen der Förster; nun kamen die Bauern an die Reihe, aus
denen jedoch nichts zu bringen war. Manche behaupteten, um vier Uhr noch
zu Hause oder anderswo beschäftigt gewesen zu sein, und keiner wollte
etwas bemerkt haben. Was war zu machen? Sie waren sämtlich angesessene,
unverdächtige Leute. Man mußte sich mit ihren negativen Zeugnissen
begnügen.
Friedrich ward
hereingerufen. Er trat ein mit einem Wesen, das sich durchaus nicht von
seinem gewöhnlichen unterschied, weder gespannt noch keck. Das Verhör
währte ziemlich lange, und die Fragen waren mitunter ziemlich schlau
gestellt; er beantwortete sie jedoch alle offen und bestimmt und erzählte
den Vorgang zwischen ihm und dem Oberförster ziemlich der Wahrheit
gemäß, bis auf das Ende, das er geratener fand, für sich
zu behalten. Sein Alibi zur Zeit des Mordes war leicht erwiesen. Der Förster
lag am Ausgange des Masterholzes; über dreiviertel Stunden Weges
von der Schlucht, in der er Friedrich um vier Uhr angeredet und aus der
dieser seine Herde schon zehn Minuten später ins Dorf getrieben.
Jedermann hatte dies gesehen; alle anwesenden Bauem beeiferten sich, es
zu bezeugen, mit diesem hatte er geredet, jenem zugenickt.
Der Gerichtsschreiber
saß unmutig und verlegen da. Plötzlich fuhr er mit der Hand
hinter sich und brachte etwas Blinkendes vor Friedrichs Auge. "Wem gehört
dies?" Friedrich sprang drei Schritt zurück. "Herr Jesus! Ich dachte,
Ihr wolltet mir den Schädel einschlagen." Seine Augen waren rasch
über das tödliche Werkzeug gefahren und schienen momentan auf einem
ausgebrochenen Splitter am Stiele zu haften. "Ich weiß es nicht", sagte
er fest. Es war die Axt, die man in dem Schädel des Oberförsters
eingeklammert gefunden hatte. "Sieh sie genau an" fuhr der Gerichtsschreiber
fort. Friedrich faßte sie mit der Hand, besah sie oben, unten, wandte
sie um. "Es ist eine Axt wie andere", sagte er dann und legte sie gleichgültig
auf den Tisch. Ein Blutfleck ward sichtbar; er schien zu schaudern, aber
er wiederholte noch einmal sehr bestimmt: "Ich kenne sie nicht." Der Gerichtsschreiber
seufzte vor Unmut. Er selbst wußte um nichts mehr und hatte nur einen
Versuch zu möglicher Entdeckung durch Überraschung machen wollen.
Es blieb nichts übrig als das Verhör zu schließen.
Denjenigen,
die vielleicht auf den Ausgang dieser Begebenheit gespannt sind, muß
ich sagen, daß diese Geschichte nie aufgeklärt wurde, obwohl
noch viel dafür geschah und diesem Verhöre mehrere folgten. Den
Blaukitteln schien durch das Aufsehen, das der Vorgang gemacht, und die
darauf folgenden geschärften Maßregeln der Mut genommen; sie
waren von nun an wie verschwunden, und obgleich späterhin noch mancher
Holzfrevler erwischt wurde, fand man doch nie Anlaß, ihn der berüchtigten
Bande zuzuschreiben. Die Axt lag zwanzig Jahre nachher als unnützes
corpus delicti im Gerichtsarchiv, wo sie wohl noch jetzt ruhen mag mit ihren
Rostflecken. Es würde in einer erdichteten Geschich-te unrecht sein,
die Neugier des Lesers so zu täuschen. Aber dies alles hat sich wirklich
zugetragen; ich kann nichts davon oder dazutun. Am nächsten Sonntage
stand Friedrich sehr früh auf, um zur Beichte zu gehen. Es war Mariä
Himmelfahrt und die Pfarrgeistlichen schon vor Tagesanbruch im Beichtstuhle.
Nachdem er sich im Finstern angekleidet, verließ er so geräuschlos
wie möglich den engen Verschlag, der ihm in Simons Hause eingeräumt
war. In der Küche mußte sein Gebetbuch auf dem Sims liegen,
und er hoffte, es mit Hülfe des schwachen Mondlichts zu finden; es
war nicht da. Er warf die Augen suchend umher und fuhr zusammen; in der
Kammertür stand Simon, fast unbekleidet; seine dürre Gestalt, sein
ungekämmtes, wirres Haar und die vom Mondschein verursachte Blässe
des Gesichts gaben ihm ein schauerlich verändertes Ansehen. "Sollte er
nachtwandeln?" dachte Friedrich und verhielt sich ganz still. "Friedrich,
wohin?" flüsterte der Alte. "Ohm, seid Ihrs? Ich will beichten gehen."
"Das dacht ich mir; geh in Gottes Namen, aber beichte wie ein guter Christ."
"Das will ich", sagte Friedrich. "Denk an die zehn Gebote: du sollst kein
Zeugnis ablegen gegen deinen Nächsten." "Kein falsches!" "Nein, gar keines;
du bist schlecht unterrichtet; wer einen andern in der Beichte anklagt, der
empfängt das Sakrament unwürdig."
Beide schwiegen.
"Ohm, wie kommt ihr darauf ?" sagte Friedrich dann; "Eu'r Gewissen ist
nicht rein; Ihr habt mich belogen." "Ich? So?" "Wo ist Eure Axt?" "Meine
Axt? Auf der Tenne." "Habt Ihr einen neuen Stiel hineingemacht? Wo ist
der alte?" "Den kannst du heute bei Tage im Holzschuppen finden. Geh", fuhr
er verächtlich fort, "ich dachte du seist ein Mann; aber du bist
ein altes Weib, das gleich meint, das Haus brennt, wenn ihr Feuertopf raucht.
Sieh", fuhr er fort, "wenn ich mehr von der Geschichte weiß als der
Türpfosten da, so will ich ewig nicht selig werden. Längst war
ich zu Haus" fügte er hinzu. Friedrich stand beklemmt und zweifelnd.
Er hätte viel darum gegeben, seines Ohms Gesicht sehen zu können.
Aber während sie flüsterten hatte der Himmel sich bewölkt.
"Ich habe schwere
Schuld", seufzte Friedrich, "daß ich ihn den unrechten Weg geschickt
obgleich doch, dies hab ich nicht gedacht; nein, gewiß nicht. Ohm,
ich habe Euch ein schweres Gewissen zu danken." "So geh, beicht!" flüsterte
Simon mit bebender Stimme; "verunehre das Sakrament durch Angeberei und
setze armen Leuten einen Spion auf den Hals, der schon Wege finden wird,
ihnen das Stückchen Brot aus den Zähnen zu reißen, wenn
er gleich nicht reden darf geh !" Friedrich stand unschlüssig; er hörte
ein leises Geräusch; die Wolken verzogen sich, das Mondlicht fiel wieder
auf die Kammertür: sie war geschlossen. Friedrich ging an diesem Morgen
nicht zur Beichte.
Der Eindruck,
den dieser Vorfall auf Friedrich gemacht, erlosch leider nur zu bald. Wer
zweifelt daran, daß Simon alles tat, seinen Adoptivsohn dieselben
Wege zu leiten, die er selber ging? Und in Friedrich lagen Eigenschaften,
die dies nur zu sehr erleichterten: Leichtsinn, Erregbarkeit, und vor allem
ein grenzenloser Hochmut, der nicht immer den Schein verschmähte und
dann alles daran setzte, durch Wahrmachung des Usurpierten möglicher
Beschämung zu entgehen. Seine Natur war nicht unedel, aber er gewöhnte
sich, die innere Schande der äußern vorzuziehen. Man darf nur sagen,
er gewöhnte sich zu prunken, während seine Mutter darbte.
Diese unglückliche
Wendung seines Charakters war indessen das Werk mehrerer Jahre, in denen
man bemerkte, daß Margreth immer stiller über ihren Sohn ward
und allmählich in einen Zustand der Verkommenheit versank, den man
früher bei ihr für unmöglich gehalten hätte. Sie wurde
scheu, saumselig, sogar unordentlich, und manche meinten, ihr Kopf habe
gelitten. Friedrich ward desto lauter; er versäumte keine Kirchweih
oder Hochzeit, und da ein sehr empfindliches Ehrgefühl ihn die geheime
Mißbilligung mancher nicht übersehen ließ, war er gleichsam
immer unter Waffen, der öffentlichen Meinung nicht sowohl Trotz zu
bieten, als sie den Weg zu leiten, der ihm gefiel. Er war äußerlich
ordentlich, nüchtern, anscheinend treuherzig, aber listig, prahlerisch
und oft roh, ein Mensch, an dem niemand Freude haben konnte, am wenigsten
seine Mutter, und der dennoch durch seine gefürchtete Kühnheit
und noch mehr gefürchtete Tücke ein gewisses Übergewicht
im Dorfe erlangt hatte, das um so mehr anerkannt wurde, je mehr man sich
bewußt war, ihn nicht zu kennen und nicht berechnen zu können,
wessen er am Ende fähig sei. Nur e i n Bursch im Dorfe, Wilm Hülsmeyer,
wagte im Bewußtsein seiner Kraft und guter Verhältnisse ihm die
Spitze zu bieten; und da er gewandter in Worten war als Friedrich und immer,
wenn der Stachel saß, einen Scherz daraus zu machen wußte, so
war dies der einzige, mit dem Friedrich ungern zusammentraf.
Vier Jahre
waren verflossen; es war im Oktober; der milde Herbst von 1760, der alle
Scheunen mit Korn und alle Keller mit Wein füllte, hatte seinen Reichtum
auch über diesen Erdwinkel strömen lassen, und man sah mehr
Betrunkene, hörte von mehr Schlägereien und dummen Streichen
als je. Überall gabs Lustbarkeiten; der blaue Montag kam in Aufnahme,
und wer ein paar Taler erübrigt hatte, wollte gleich eine Frau dazu,
die ihm heute essen und morgen hungern helfen könne. Da gab es im
Dorfe eine tüchtige solide Hochzeit, und die Gäste durften mehr
er warten als eine verstimmte Geige, ein Glas Branntwein und was sie an
guter Laune selber mitbrachten. Seit früh war alles auf den Beinen;
vor jeder Tür wurden Kleider gelüftet, und B. glich den ganzen
Tag einer Trödelbude. Da viele Auswärtige erwartet wurden, wollte
jeder gern die Ehre des Dorfes oben halten. Es war sieben Uhr abends und
alles in vollem Gange; Jubel und Gelächter an allen Enden, die niederen
Stuben zum Ersticken angefüllt mit blauen, roten und gelben Gestalten,
gleich Pfandställen, in denen eine zu große Herde eingepfercht
ist. Auf der Tenne ward getanzt, das heißt: wer zwei Fuß Raum
erobert hatte, drehte sich darauf immer rundum und suchte durch Jauchzen
zu ersetzen, was an Bewegung fehlte. Das Orchester war glänzend,
die erste Geige als anerkannte Künstlerin prädominierend, die zweite
und eine große Baßviole mit drei Saiten von Dilettanten ad
libitum gestrichen; Branntwein und Kaffee in Überfluß, alle Gäste
von Schweiß triefend; kurz, es war ein köstliches Fest. Friedrich
stolzierte umher wie ein Hahn, im neuen himmelblauen Rock, und machte sein
Recht als erster Elegant geltend. Als auch die Gutsherrschaft anlangte,
saß er gerade hinter der Baßgeige und strich die tiefste Saite
mit großer Kraft und vielem Anstand.
"Johannes!"
rief er gebieterisch, und heran trat sein Schützling von dem Tanzplatze,
wo er auch seine ungelenken Beine zu schlenkern und eins zu jauchzen versucht
hatte. Friedrich reichte ihm den Bogen gab durch eine stolze Kopfbewegung
seinen Willen zu erkennen und trat zu den Tanzenden. "Nun lustig Musikanten:
den Papen von Istrup!" Der beliebte Tanz ward gespielt, und Friedrich
machte Sätze vor den Augen seiner Herrschaft, daß die Kühe
an der Tenne die Hörner zurückzogen und Kettengeklirr und Gebrumm
an ihren Ständern herlief. Fußhoch über die anderen tauchte
sein blonder Kopf auf und nieder, wie ein Hecht, der sich im Wasser überschlägt;
an allen Enden schrien Mädchen auf denen er zum Zeichen der Huldigung
mit einer raschen Kopfbewegung sein langes Flachshaar ins Gesicht schleuderte.
"Jetzt ist
es gut!" sagte er endlich und trat schweißtriefend an den Kredenztisch;
"die gnädigen Herrschaften sollen leben und alle die hochadeligen
Prinzen und Prinzessinnen, und wers nicht mittrinkt, den will ich an die
Ohren schlagen, daß er die Engel singen hört!" Ein lautes Vivat
beantwortete den galanten Toast. Friedrich machte seinen Bückling.
"Nichts für ungut gnädige Herrschaften; wir sind nur ungelehrte
Bauersleute!" In diesem Augenblick erhob sich ein Getümmel am Ende
der Tenne, Geschrei Schelten, Gelächter, alles durcheinander. "Butterdieb,
Butterdieb!" riefen ein paar Kinder und heran drängte sich, oder vielmehr
ward geschoben Johannes Niemand, den Kopf zwischen die Schultern ziehend
und mit aller Macht nach dem Ausgange strebend. "Was ists? Was habt ihr mit
unserem Johannes?" rief Friedrich gebieterisch.
"Das sollt
Ihr früh genug gewahr werden", keuchte ein altes Weib mit der Küchenschürze
und einem Wischhader in der Hand. Schande! Johannes, der arme Teufel,
dem zu Hause das Schlechteste gut genug sein mußte, hatte versucht,
sich ein halbes Pfündchen Butter für die kommende Dürre
zu sichern, und ohne daran zu denken, daß er es, sauber in sein
Schnupftuch gewickelt, in der Tasche geborgen, war er ans Küchenfeuer
getreten, und nun rann das Fett schmählich die Rockschöße
entlang. Allgemeiner Aufruhr; die Mädchen sprangen zurück, aus
Furcht, sich zu beschmutzen, oder stießen den Delinquenten vorwärts.
Andere machten Platz, sowohl aus Mitleid als Vorsicht. Aber Friedrich trat
vor: "Lumpenhund!" rief er; ein paar derbe Maulschellen trafen den geduldigen
Schützling; dann stieß er ihn an die Tür und gab ihm einen
tüchtigen Fußtritt mit auf den Weg.
Er kehrte niedergeschlagen
zurück; seine Würde war verletzt, das allgemeine Gelächter
schnitt ihm durch die Seele; ob er sich gleich durch einen tapfern Juchheschrei
wieder in den Gang zu bringen suchte es wollte nicht mehr recht gehen.
Er war im Begriff sich wieder hinter die Baßviole zu flüchten;
doch zu vor noch ein Knalleffekt: er zog seine silberne Taschenuhr hervor,
zu jener Zeit ein seltener und kostbarer Schmuck. "Es ist bald zehn", sagte
er. "Jetzt den Brautmenuet! Ich will Musik machen."
"Eine prächtige
Uhr!" sagte der Schweinehirt und schob sein Gesicht in ehrfurchtsvoller
Neugier vor. "Was hat sie gekostet?" rief Wilm Hülsmeyer, Friedrichs
Nebenbuhler. "Willst du sie bezahlen?" fragte Friedrich. "Hast d u sie
bezahlt?" antwortete Wilm. Friedrich warf einen stolzen Blick auf ihn und
griff in schweigender Majestät zum Fiedelbogen. "Nun, nun", sagte Hülsmeyer
"dergleichen hat man schon erlebt. Du weißt wohl der Franz Ebel hatte
auch eine schöne Uhr, bis der Jude Aaron sie ihm wieder abnahm." Friedrich
antwortete nicht, sondern winkte stolz der ersten Violine, und sie begannen
aus Leibeskräften zu streichen.
par Die Gutsherrschaft
war indessen in die Kammer getreten, wo der Braut von den Nachbarfrauen
das Zeichen ihres neuen Standes, die weiße Stirnbinde umgelegt wurde.
Das junge Blut weinte sehr, teils weil es die Sitte so wollte, teils aus
wahrer Beklemmung. Sie sollte einem verworrenen Haushalt vorstehen, unter
den Augen eines mürri-schen alten Mannes, den sie noch obendrein lieben
sollte. Er stand neben ihr, durchaus nicht wie der Bräutigam des hohen
Liedes, der "in die Kammer tritt wie die Morgensonne". "Du hast nun genug
geweint", sagte er verdrießlich; "bedenk, du bist es nicht, die mich
glücklich macht, ich mache dich glücklich!" Sie sah demütig
zu ihm auf und schien zu fühlen, daß er recht habe. Das Geschäft
war beendigt; die junge Frau hatte ihrem Manne zugetrunken, junge Spaßvögel
hatten durch den Dreifuß geschaut, ob die Binde gerade sitze; und
man drängte sich wieder der Tenne zu, von wo unauslöschliches
Gelächter und Lärm herüberschallte. Friedrich war nicht mehr
dort. Eine große, unerträgli-che Schmach hatte ihn getroffen,
da der Jude Aaron, ein Schlächter und gelegentlicher Althändler
aus dem nächsten Städtchen, plötzlich erschienen war und
nach einem kurzen, unbefriedigenden Zwiegespräch ihn laut vor allen
Leuten um den Betrag von zehn Talern für eine schon um Ostern gelieferte
Uhr gemahnt hatte. Friedrich war wie vernichtet fortgegangen und der Jude
ihm gefolgt, immer schreiend: "O weh mir! Warum hab ich nicht gehört
auf vernünftige Leute! Haben sie mir nicht hundertmal gesagt, Ihr
hättet all Eu'r Gut am Leibe und kein Brot im Schranke!" Die Tenne
tobte von Gelächter; manche hatten sich auf den Hof nachgedrängt.
"Packt den Juden! Wiegt ihn gegen ein Schwein!" riefen einige; andere waren
ernst geworden. "Der Friedrich sah so blaß aus wie ein Tuch", sagte
eine alte Frau, und die Menge teilte sich, wie der Wagen des Gutsherrn
in den Hof lenkte. Herr von S. war auf dem Heimwege verstimmt, die jedesmalige
Folge, wenn der Wunsch, seine Popularität aufrecht zu erhalten, ihn
bewog, solchen Festen beizuwohnen. Er sah schweigend aus dem Wagen. "Was
sind denn das für ein paar Figuren?" Er deutete auf zwei dunkle Gestalten,
die vor dem Wagen rannten wie Strauße. Nun schlüpften sie ins
Schloß. "Auch ein paar selige Schweine aus unserm eigenen Stall!" seufzte
Herr von S. Zu Hause angekommen, fand er die Hausflur vom ganzen Dienstpersonal
eingenommen, das zwei Kleinknechte umstand, welche sich blaß und atemlos
auf der Stiege niedergelassen hatten. Sie behaupteten, von des alten Mergels
Geist verfolgt worden zu sein, als sie durchs Brederholz heimkehrten. Zuerst
hatte es über ihnen an der Höhe gerauscht und geknistert; darauf
hoch in der Luft ein Geklapper wie von aneinander geschlagenen Stöcken;
plötzlich ein gellender Schrei und ganz deutlich die Worte: "O weh,
meine arme Seele!" hoch von oben herab. Der eine wollte auch glühende
Augen durch die Zweige funkeln gesehen haben, und beide waren gelaufen, was
ihre Beine vermochten.
"Dummes Zeug!"
sagte der Gutsherr verdrießlich und trat in die Kammer, sich umzukleiden.
Am anderen Morgen wollte die Fontäne im Garten nicht springen, und
es fand sich, daß jemand eine Röhre verrückt hatte, augenscheinlich
um nach dem Kopfe eines vor vielen Jahren hier verscharrten Pferdegerippes
zu suchen, der für ein bewährtes Mittel wider allen Hexen und
Geisterspuk gilt. "Hm", sagte der Gutsherr, "was die Schelme nicht stehlen,
das verderben die Narren."
Drei Tage später
tobte ein furchtbarer Sturm. Es war Mitternacht, aber alles im Schlosse
außer dem Bett.
Der Gutsherr
stand am Fenster und sah besorgt ins Dunkle, nach seinen Feldern hinüber.
An den Scheiben flogen Blätter und Zweige her; mitunter fuhr ein
Ziegel hinab und schmetterte auf das Pflaster des Hofes. "Furchtbares
Wetter!" sagte Herr von S. Seine Frau sah ängstlich aus. "Ist das
Feuer auch gewiß gut verwahrt?" sagte sie; "Gretchen, sieh noch einmal
nach, gieß es lieber ganz aus! Kommt wir wollen das Evangelium Johannis
beten." Alles kniete nieder, und die Hausfrau begann: "Im Anfang war das
Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort." Ein furchtbarer
Donnerschlag. Alle fuhren zusammen; dann furchtbares Geschrei und Getümmel
die Treppe heran. "Um Gottes willen! Brennt es?" rief Frau von S. und sank
mit dem Gesichte auf den Stuhl. Die Türe ward aufgerissen, und herein
stürzte die Frau des Juden Aaron, bleich wie der Tod, das Haar wild
um den Kopf, von Regen triefend. Sie warf sich vor dem Gutsherrn auf die
Knie. "Gerechtigkeit!" rief sie "Gerechtigkeit! Mein Mann ist erschlagen!"
und sank ohnmächtig zusammen.
Es war nur
zu wahr, und die nachfolgende Untersuchung bewies, daß der Jude
Aaron durch einen Schlag an die Schläfe mit einem stumpfen Instrumente,
wahrscheinlich einem Stabe, sein Leben verloren hatte, durch einen einzigen
Schlag. An der linken Schläfe war der blaue Fleck, sonst keine Verletzung
zu finden. Die Aussagen der Jüdin und ihres Knechtes Samuel lauteten
so: Aaron war vor drei Tagen am Nachmittag ausgegangen, um Vieh zu kaufen,
und hatte dabei gesagt, er werde wohl über Nacht ausbleiben, da noch
einige böse Schuldner in B. und S. zu mahnen seien. In diesem Falle
werde er in B. beim Schlächter Salomon übernachten. Als er am
folgenden Tage nicht heimkehrte, war seine Frau sehr besorgt geworden und
hatte sich endlich heute um drei nachmittags in Begleitung ihres Knechtes
und des großen Schlächterhundes auf den Weg gemacht. Beim Juden
Salomon wußte man nichts von Aaron; er war gar nicht da gewesen. Nun
waren sie zu allen Bauern gegangen, von denen sie wußten, daß
Aaron einen Handel mit ihnen im Auge hatte. Nur zwei hatten ihn gesehen,
und zwar an demselben Tage, an welchem er ausgegangen. Es war darüber
sehr spät geworden. Die große Angst trieb das Weib nach Haus,
wo sie ihren Mann wiederzufinden eine schwache Hoffnung nährte. So waren
sie im Brederholz vom Gewitter überfallen worden und hatten unter einer
großen am Berghange stehenden Buche Schutz gesucht; der Hund hatte
unterdessen auf eine auffallende Weise umhergestöbert und sich endlich,
trotz allem Locken, im Walde verlaufen. Mit einemmale sieht die Frau beim
Leuchten des Blitzes etwas Weißes neben sich im Moose. Es ist der
Stab ihres Mannes, und fast im selben Augenblicke bricht der Hund durchs
Gebüsch und trägt etwas im Maule: es ist der Schuh ihres Mannes.
Nicht lange, so ist in einem mit dürrem Laube gefüllten Graben
der Leichnam des Juden gefunden. Dies war die Angabe des Knechtes, von
der Frau nur im allgemeinen unterstützt; ihre übergroße
Spannung hatte nachgelassen, und sie schien jetzt halb verwirrt oder vielmehr
stumpfsinnig. "Aug um Auge, Zahn um Zahn!" dies waren die einzigen Worte,
die sie zuweilen hervorstieß.
In derselben
Nacht noch wurden die Schützen aufgeboten, um Friedrich zu verhaften.
Der Anklage bedurfte es nicht, da Herr von S. selbst Zeuge eines Auftritts
gewesen war, der den dringendsten Verdacht auf ihn werfen mußte;
zudem die Gespenstergeschichte von jenem Abende, das Aneinanderschlagen
der Stäbe im Brederholz, der Schrei aus der Höhe. Da der Amtsschreiber
gerade abwesend war, so betrieb Herr von S. selbst alles rascher, als sonst
geschehen wäre. Dennoch begann die Dämmerung bereits anzubrechen,
bevor die Schützen so geräuschlos wie möglich das Haus der
armen Margreth umstellt hatten. Der Gutsherr selber pochte an; es währte
kaum eine Minute, bis geöffnet ward und Margreth völlig gekleidet
in der Türe erschien. Herr von S. fuhr zurück; er hätte sie
fast nicht erkannt, so blaß und steinern sah sie aus. "Wo ist Friedrich?"
fragte er mit unsicherer Stimme. "Sucht ihn", antwortete sie und setzte
sich auf einen Stuhl. Der Gutsherr zögerte noch einen Augenblick. "Herein,
herein!" sagte er dann barsch; "worauf warten wir?" Man trat in Friedrichs
Kammer. Er war nicht da, aber das Bett noch warm. Man stieg auf den Söller,
in den Keller, stieß ins Stroh, schaute hinter jedes Faß, sogar
in den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in den Garten, sahen hinter
den Zaun und in die Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden. "Entwischt!"
sagte der Gutsherr mit sehr gemischten Gefühlen; der Anblick der alten
Frau wirkte gewaltig auf ihn. "Gebt den Schlüssel zu jenem Koffer."
Margreth antwortete nicht. "Gebt den Schlüssel!" wiederholte der Gutsherr
und merkte jetzt erst, daß der Schlüssel steckte. Der Inhalt des
Koffers kam zum Vorschein: des Entflohenen gute Sonntagskleider und seiner
Mutter ärmlicher Staat; dann zwei Leichenhemden mit schwarzen Bändern,
das eine für einen Mann, das andere für eine Frau gemacht. Herr
von S. war tief erschüttert. Ganz zu unterst auf dem Boden des Koffers
lag die silberne Uhr und einige Schriften von sehr leserlicher Hand; eine
derselben von einem Manne unterzeichnet, den man in starkem Verdacht der
Verbindung mit den Holzfrevlern hatte. Herr von S. nahm sie mit zur Durchsicht,
und man verließ das Haus, ohne daß Margreth ein anderes Lebenszeichen
von sich gegeben hätte, als daß sie unaufhörlich die Lippen
nagte und mit den Augen zwinkerte. m Schlosse angelangt, fand der Gutsherr
den Amtsschreiber, der schon am vorigen Abend heimgekommen war und behauptete,
die ganze Geschichte verschlafen zu haben, da der gnädige Herr nicht
nach ihm geschickt. "Sie kommen immer zu spät", sagte Herr von S. verdrießlich.
"War denn nicht irgendein altes Weib im Dorfe, das Ihrer Magd die Sache
erzählte? Und warum weckte man Sie dann nicht?" "Gnädiger Herr",
versetzte Kapp, "allerdings hat meine Anne Marie den Handel um eine Stunde
früher erfahren als ich; aber sie wußte, daß Ihro Gnaden
die Sache selbst leiteten, und dann", fügte er mit klagender Miene
hinzu, "daß ich so todmüde war!" "Schöne Polizei!" murmelte
der Gutsherr "jede alte Schachtel im Dorf weiß Bescheid, wenn es
recht geheim zugehen soll." Dann fuhr er heftig fort: "Das müßte
wahrhaftig ein dummer Teufel von Delinquenten sein, der sich packen ließe!"
Beide schwiegen
eine Weile. "Mein Fuhrmann hatte sich in der Nacht verirrt", hob der Amtsschreiber
wieder an; "über eine Stunde lang hielten wir im Walde; es war ein
Mordwetter; ich dachte, der Wind werde den Wagen umreißen. Endlich,
als der Regen nachließ, fuhren wir in Gottes Namen darauf los, immer
in das Zellerfeld hinein, ohne eine Hand vor den Augen zu sehen. Da sagte
der Kutscher: 'Wenn wir nur nicht den Steinbrüchen zu nahe kommen!'
Mir war selbst bange; ich ließ halten und schlug Feuer, um we-nigstens
etwas Unterhaltung an meiner Pfeife zu haben. Mit einemmale hörten
wir ganz nah, perpendikulär unter uns die Glocke schlagen. Euer Gnaden
mögen glauben, daß mir fatal zumute wurde. Ich sprang aus dem
Wagen, denn seinen eigenen Beinen kann man trauen, aber denen der Pferde
nicht. So stand ich, in Kot und Regen, ohne mich zu rühren, bis es
gottlob sehr bald anfing zu dämmern. Und wo hielten wir? Dicht an
der Heerser Tiefe und den Turm von Heerse gerade unter uns. Wären
wir noch zwanzig Schritt weiter gefahren, wir wären alle Kinder des
Todes gewesen." "Das war in der Tat kein Spaß", versetzte der Gutsherr,
halb versöhnt.
Er hatte unterdessen
die mitgenommenen Papiere durchgesehen. Es waren Mahnbriefe um geliehene
Gelder, die meisten von Wucherern. "Ich hätte nicht gedacht", murmelte
er, "daß die Mergels so tief drin steckten." "Ja, und daß
es so an den Tag kommen muß", versetzte Kapp, "das wird kein kleiner
Ärger für Frau Margreth sein." "Ach Gott, die denkt jetzt daran
nicht!" Mit diesen Worten stand der Gutsherr auf und verließ das
Zimmer, um mit Herrn Kapp die gerichtliche Leichenschau vorzunehmen. Die
Untersuchung war kurz, gewaltsamer Tod erwiesen, der vermutliche Täter
entflohen, die Anzeichen gegen ihn zwar gravierend, doch ohne persönliches
Geständnis nicht beweisend, seine Flucht allerdings sehr verdächtig.
So mußte die gerichtliche Verhandlung ohne genügenden Erfolg
geschlossen werden.
Die Juden der
Umgegend hatten großen Anteil gezeigt. Das Haus der Witwe ward nie
leer von Jammernden und Ratenden. Seit Menschengedenken waren nicht so viel
Juden beisammen in L. gesehen worden. Durch den Mord ihres Glaubensgenossen
aufs äußerste erbittert, hatten sie weder Mühe noch Geld
gespart, dem Täter auf die Spur zu kommen. Man weiß sogar, daß
einer derselben, gemeinhin der Wucherjoel genannt, einem seiner Kunden, der
ihm mehrere Hunderte schuldete und den er für einen besonders listigen
Kerl hielt, Erlaß der ganzen Summe angeboten hatte, falls er ihm zur
Verhaftung des Mergel verhelfen wolle; denn der Glaube war allgemein unter
den Juden, daß der Täter nur mit guter Beihülfe entwischt
und wahrscheinlich noch in der Umgegend sei. Als den-noch alles nichts half
und die gerichtliche Verhandlung für beendet erklärt worden war,
erschien am nächsten Morgen eine Anzahl der angesehensten Israeliten
im Schlosse, um dem gnädigen Herrn einen Handel anzutragen. Der Gegenstand
war die Buche, unter der Aarons Stab gefunden und wo der Mord wahrscheinlich
verübt worden war. "Wollt ihr sie fällen? So mitten im vollen Laube?"
fragte der Gutsherr. "Nein, Ihro Gnaden, sie muß stehenbleiben im Winter
und Sommer, solange ein Span daran ist." "Aber, wenn ich nun den Wald hauen
lasse, so schadet es dem jungen Aufschlag." "Wollen wir sie doch nicht um
gewöhnlichen Preis." Sie boten zweihundert Taler. Der Handel ward geschlossen
und allen Förstern streng eingeschärft, die Judenbuche auf keine
Weise zu schädigen. Darauf sah man an einem Abende wohl gegen sechzig
Juden, ihren Rabbiner an der Spitze, in das Brederholz ziehen, alle schweigend
und mit gesenkten Augen. Sie blieben über eine Stunde im Walde und kehrten
dann ebenso ernst und feierlich zurück, durch das Dorf B. bis in das
Zellerfeld, wo sie sich zerstreuten und jeder seines Weges ging. Am nächsten
Morgen stand an der Buche mit dem Beil eingehauen:
Und wo war Friedrich?
Ohne Zweifel fort, weit genug, um die kurzen Arme einer so schwachen Polizei
nicht mehr fürchten zu dürfen. Er war bald verschollen, vergessen.
Ohm Simon redete selten von ihm, und dann schlecht; die Judenfrau tröstete
sich am Ende und nahm einen anderen Mann. Nur die arme Margreth blieb
ungetröstet.
Etwa ein halbes
Jahr nachher las der Gutsherr einige eben erhaltene Briefe in Gegenwart
des Amtsschreibers. "Sonderbar, sonderbar!" sagte er. "Denken Sie sich,
Kapp, der Mergel ist vielleicht unschuldig an dem Morde. Soeben schreibt mir
der Präsident des Gerichtes zu P.: >Le vrai n'est pas toujours vraisemblable<;
das erfahre ich oft in meinem Berufe und jetzt neuerdings. Wissen Sie wohl
daß Ihr lieber Getreuer, Friedrich Mergel, den Juden mag ebensowenig
erschlagen haben als ich oder Sie? Leider fehlen die Beweise, aber die Wahrscheinlichkeit
ist groß. Ein Mitglied der Schlemmingschen Bande (die wir jetzt, nebenbei
gesagt, größtenteils unter Schloß und Riegel haben) Lumpenmoises
genannt, hat im letzten Verhöre ausgesagt, daß ihn nichts so
sehr gereue als der Mord ei-nes Glaubensgenossen, Aaron, den er im Walde
erschlagen und doch nur sechs Groschen bei ihm gefunden habe. Leider ward
das Verhör durch die Mittagsstunde unterbrochen, und während wir
tafelten, hat sich der Hund von einem Juden an seinem Strumpfband erhängt.
Was sagen Sie dazu? Aaron ist zwar ein verbreiteter Name usw." "Was sagen
Sie dazu?" wiederholte der Gutsherr: "und weshalb wäre der Esel von
einem Burschen denn gelaufen?" Der Amtsschreiber dachte nach. "Nun, vielleicht
der Holzfrevel wegen, mit denen wir ja gerade in Untersuchung waren. Heißt
es nicht: der Böse läuft vor sei-nem eigenen Schatten? Mergels
Gewissen war schmutzig genug auch ohne diesen Fle-cken." Dabei beruhigte
man sich. Friedrich war hin, verschwunden und Johannes Niemand, der arme,
unbeachtete Johannes, am gleichen Tage mit ihm. -
Eine schöne
lange Zeit war verflossen, achtundzwanzig Jahre, fast die Hälfte
eines Menschenlebens; der Gutsherr war sehr alt und grau geworden, sein
gutmütiger Gehülfe Kapp längst begraben. Menschen, Tiere
und Pflanzen waren entstanden, gereift, vergangen, nur Schloß B.
sah immer gleich grau und vornehm auf die Hütten herab, die wie alte
hektische Leute immer fallen zu wollen schienen und immer standen. Es war
am Vorabende des Weihnachtsfestes, den 24. Dezember 1788. Tiefer Schnee
lag in den Hohlwegen, wohl an zwölf Fuß hoch, und eine durchdringende
Frostluft machte die Fensterscheiben in der geheizten Stube gefrieren.
Mitternacht war nahe, dennoch flimmerten überall matte Lichtchen
aus den Schneehügeln, und in jedem Hause lagen die Einwohner auf
den Knien, um den Eintritt des heiligen Christfestes mit Gebet zu erwarten,
wie dies in katholischen Ländern Sitte ist oder wenigstens damals allgemein
war. Da bewegte sich von der Breder Höhe herab eine Gestalt langsam
gegen das Dorf; der Wanderer schien sehr matt oder krank; er stöhnte
schwer und schleppte sich äußerst mühsam durch den Schnee.
An der
Mitte des Hanges stand er still, lehnte sich auf seinen Krückenstab
und starrte unverwandt auf die Lichtpunkte. Es war so still überall,
so tot und kalt; man mußte an Irrlichter auf Kirchhöfen denken.
Nun schlug es zwölf im Turm; der letzte Schlag verdröhnte langsam,
und im nächsten Hause erhob sich ein leiser Gesang, der, von Hause
zu Hause schwellend, sich über das ganze Dorf zog:
Ein Kindelein so
löbelich
Ist uns geboren
heute,
Von einer Jungfrau
säuberlich,
Des freun sich
alle Leute;
Und wär
das Kindelein nicht geborn
So wären
wir alle zusammen verlorn:
Das Heil ist
unser aller.
O du mein liebster
Jesu Christ,
Der du als
Mensch geboren bist,
Erlös
uns von der Hölle!
Der Mann am Hange
war in die Knie gesunken und versuchte mit zitternder Stimme einzufallen:
es ward nur ein lautes Schluchzen daraus, und schwere, heiße Tropfen
fielen in den Schnee. Die zweite Strophe begann; er betete leise mit;
dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt, und die Lichter in
den Häusern begannen sich zu bewegen. Da richtete der Mann sich mühselig
auf und schlich langsam hinab in das Dorf. An mehreren Häusern keuchte
er vorüber, dann stand er vor einem still und pochte leise an. "Was
ist denn das?" sagte drinnen eine Frauenstimme; "die Türe klappert,
und der Wind geht doch nicht." Er pochte stärker: "Um Gottes willen,
laßt einen halberfrorenen Menschen ein, der aus der türkischen
Sklaverei kommt!" Geflüster in der Küche. "Geht ins Wirtshaus",
antwortete eine andere Stimme, "das fünfte Haus von hier!" "Um Gottes
Barmher-zigkeit willen, laßt mich ein! Ich habe kein Geld." Nach
einigem Zögern ward die Tür geöffnet, und ein Mann leuchtete
mit der Lampe hinaus. "Kommt nur herein", sagte er dann, "Ihr werdet uns
den Hals nicht abschneiden."
In der Küche
befanden sich außer dem Manne eine Frau in den mittleren Jahren,
eine alte Mutter und fünf Kinder. Alle drängten sich um den Eintretenden
her und musterten ihn mit scheuer Neugier. Eine armselige Figur! Mit schiefem
Halse, gekrümmtem Rücken, die ganze Gestalt gebrochen und kraftlos;
langes, schneeweißes Haar hing um sein Gesicht, das den verzogenen
Ausdruck langen Leidens trug. Die Frau ging schweigend an den Herd und
legte frisches Reisig zu. "Ein Bett können wir Euch nicht geben",
sagte sie; "aber ich will hier eine gute Streu machen; Ihr müßt
Euch schon so behelfen". "Gott's Lohn!" versetzte der Fremde; "ich bins
wohl schlechter gewohnt." Der Heimgekehrte ward als Johannes Niemand erkannt
und er selbst bestätigte, daß er derselbe sei, der einst mit
Friedrich Mergel entflohen.
Das Dorf war
am folgenden Tage voll von den Abenteuern des so lange Verschollenen.
Jeder wollte den Mann aus der Türkei sehen, und man wunderte sich
beinahe, daß er noch aussehe wie andere Menschen. Das junge Volk
hatte zwar keine Erinnerungen von ihm, aber die Alten fanden seine Züge
noch ganz wohl heraus, so erbärmlich entstellt er auch war.
"Johannes,
Johannes, was seid Ihr grau geworden!" sagte eine alte Frau. "Und woher
habt Ihr den schiefen Hals?" "Vom Holz und Wassertragen in der Sklaverei",
versetzte er. "Und was ist aus Mergel geworden? Ihr seid doch zusammen
fortgelaufen?" "Freilich wohl; aber ich weiß nicht wo er ist, wir
sind voneinander gekommen. Wenn Ihr an ihn denkt, betet für ihn",
fügte er hinzu, "er wird es wohl nötig haben." Man fragte ihn,
wa-rum Friedrich sich denn aus dem Staube gemacht, da er den Juden doch
nicht erschlagen? "Nicht?" sagte Johannes und horchte gespannt auf, als
man ihm erzählte, was der Gutsherr geflissentlich verbreitet hatte,
um den Fleck von Mergels Namen zu löschen. "Also ganz umsonst", sagte
er nachdenkend, "ganz umsonst so viel ausgestanden!" Er seufzte tief und
fragte nun seinerseits nach manchem. Simon war lange tot, aber zuvor noch
ganz verarmt durch Prozesse und böse Schuldner, die er nicht gerichtlich
belangen durfte, weil es, wie man sagte zwischen ihnen keine reine Sache
war. Er hatte zuletzt Bettelbrot gegessen und war in einem fremden Schuppen
auf dem Stroh gestorben. Margreth hatte länger gelebt, aber in völliger
Geistesstumpfheit. Die Leute im Dorf waren es bald müde geworden, ihr
beizustehen, da sie alles verkommen ließ, was man ihr gab, wie es
denn die Art der Menschen ist, gerade die Hülflosesten zu verlassen,
solche, bei denen der Beistand nicht nachhaltig wirkt und die der Hülfe
immer gleich bedürftig bleiben. Dennoch hatte sie nicht eigentlich
Not gelitten; die Gutsherrschaft sorgte sehr für sie, schickte ihr
täglich das Essen und ließ ihr auch ärztliche Behandlung
zukommen, als ihr kümmerlicher Zustand in völlige Abzehrung übergegangen
war. In ihrem Hause wohnte jetzt der Sohn des ehemaligen Schweinehirten,
der an jenem unglücklichen Abende Friedrichs Uhr so sehr bewundert hatte.
"Alles hin, alles tot!" seufzte Johannes. Am Abend, als es dunkel geworden
war und der Mond schien, sah man ihn im Schnee auf dem Kirchhofe umherhumpeln;
er betete bei keinem Grabe, ging auch an keines dicht hinan, aber auf einige
schien er aus der Ferne starre Blicke zu heften. So fand ihn der Förster
Brandis, der Sohn des Erschlagenen, den die Gutsherrschaft abgeschickt hatte,
ihn ins Schloß zu holen.
Beim Eintritt
in das Wohnzimmer sah er scheu umher, wie vom Licht geblendet, und dann
auf den Baron, der sehr zusammengefallen in seinem Lehnstuhl saß,
aber noch immer mit den hellen Augen und dem roten Käppchen auf den Kopfe
wie vor achtundzwanzig Jahren; neben ihm die gnädige Frau, auch alt,
sehr alt geworden.
"Nun, Johannes",
sagte der Gutsherr, "erzähl mir einmal recht ordentlich von deinen
Abenteuern. Aber", er musterte ihn durch die Brille, "du bist ja erbärmlich
mitgenommen in der Türkei!" Johannes begann: wie Mergel ihn nachts
von der Herde abgerufen und gesagt, er müsse mit ihm fort. "Aber warum
lief der dumme Junge denn? Du weißt doch, daß er unschuldig
war?" Johannes sah vor sich nieder: "Ich weiß nicht recht, mich dünkt,
es war wegen Holzgeschichten. Simon hatte so allerlei Geschäfte; mir
sagte man nichts davon, aber ich glaube nicht, daß alles war, wie
es sein sollte." "Was hat denn Friedrich dir gesagt?" "Nichts, als daß
wir laufen müßten, sie wären hinter uns her. So liefen wir
bis Heerse; da war es noch dunkel und wir versteckten uns hinter das große
Kreuz am Kirchhofe, bis es etwas heller würde, weil wir uns vor den
Steinbrüchen am Zellerfelde fürchteten und wie wir eine Weile
gesessen hatten, hörten wir mit einem Male über uns schnauben
und stampfen und sahen lange Feuerstrahlen in der Luft gerade über
dem Heerser Kirchturm. Wir sprangen auf und liefen, was wir konnten, in
Gottes Namen gerade aus, und wie es dämmerte, waren wir wirklich auf
dem rechten Wege nach P."
Johannes schien
noch vor der Erinnerung zu schaudern, und der Gutsherr dachte an sei-nen
seligen Kapp und dessen Abenteuer am Heerser Hange. "Sonderbar!" lachte
er, "so nah wart ihr einander! Aber fahr fort." Johannes erzählte nun
wie sie glücklich durch P. und über die Grenze gekommen. Von da
an hatten sie sich als wandernde Handwerksbursche durchgebettelt bis Freiburg
im Breisgau. "Ich hatte meinen Brotsack bei mir", sagte er, "und Friedrich
ein Bündelchen; so glaubte man uns." In Freiburg hatten sie sich von
den Österreichern anwerben lassen; ihn hatte man nicht gewollt, aber
Friedrich bestand darauf. So kam er unter den Train. "Den Winter über
blieben wir in Freiburg", fuhr er fort, "und es ging uns ziemlich gut;
mir auch, weil Friedrich mich oft erinnerte und mir half, wenn ich etwas
verkehrt machte. Im Frühling mußten wir marschieren, nach Ungarn,
und im Herbst ging der Krieg mit den Türken los. Ich kann nicht viel
davon nachsagen, denn ich wurde gleich in der ersten Affäre gefangen
und bin seitdem sechsundzwanzig Jahre in der türkischen Sklaverei gewesen!"
"Gott im Himmel! Das ist doch schrecklich!" sagte Frau von S. "Schlimm genug,
die Türken halten uns Christen nicht besser als Hunde; das schlimmste
war, daß meine Kräfte unter der harten Arbeit vergingen; ich ward
auch älter und sollte noch immer tun wie vor Jahren."
Er schwieg
eine Weile. "Ja", sagte er dann, "es ging über Menschenkräfte
und Menschen-geduld; ich hielt es auch nicht aus. Von da kam ich auf ein
holländisches Schiff." "Wie kamst du denn dahin?" fragte der Gutsherr.
"Sie fischten mich auf, aus dem Bosporus", versetzte Johannes. Der Baron
sah ihn befremdet an und hob den Finger warnend auf; aber Johannes erzählte
weiter. Auf dem Schiffe war es ihm nicht viel besser gegangen. "Der Skorbut
riß ein; wer nicht ganz elend war, mußte über Macht arbeiten,
und das Schiffstau regierte ebenso streng wie die türkische Peitsche.
Endlich", schloß er, "als wir nach Holland kamen, nach Amsterdam,
ließ man mich frei, weil ich unbrauchbar war, und der Kaufmann, dem
das Schiff gehörte, hatte auch Mitleiden mit mir und wollte mich zu
seinem Pförtner machen. Aber" er schüttelte den Kopf "ich bettelte
mich lieber durch bis hierher." "Das war dumm genug", sagte der Gutsherr.
Johannes seufzte tief: "O Herr, ich habe mein Leben zwischen Türken
und Ketzern zubringen müssen; soll ich nicht wenigs-tens auf einem
katholischen Kirchhofe liegen?" Der Gutsherr hatte seine Börse gezogen:
"Da, Johannes, nun geh und komm bald wieder. Du mußt mir das alles
noch ausführlicher erzählen; heute ging es etwas konfus durcheinander.
Du bist wohl noch sehr müde?" "Sehr müde", versetzte Johannes;
"und" er deutete auf seine Stirn "meine Gedanken sind zuweilen so kurios,
ich kann nicht recht sagen, wie es so ist." "Ich weiß schon", sagte
der Baron ,"von alter Zeit her. Jetzt geh! Hülsmeyers behalten dich
wohl noch die Nacht über, morgen komm wieder."
Herr von S.
hatte das innigste Mitleiden mit dem armen Schelm; bis zum folgenden Tage
war überlegt worden, wo man ihn einmieten könne; essen sollte er
täglich im Schlosse, und für Kleidung fand sich auch wohl Rat. "Herr",
sagte Johannes, "ich kann auch noch wohl etwas tun; ich kann hölzerne
Löffel machen, und Ihr könnt mich auch als Boten schicken." Herr
von S. schüttelte mitleidig den Kopf : "Das würde doch nicht
sonderlich ausfallen." "O doch, Herr, wenn ich erst im Gange bin es geht
nicht schnell aber hin komme ich doch, und es wird mir auch nicht sauer,
wie man denken sollte." "Nun", sagte der Baron zweifelnd, "willst du's versuchen?
Hier ist ein Brief nach P. Es hat keine sonderliche Eile." Am folgenden
Tage bezog Johannes sein Kämmerchen bei einer Witwe im Dorfe. Er schnitzelte
Löffel, aß auf dem Schlosse und machte Botengänge für
den gnädigen Herrn. Im ganzen gings ihm leidlich; die Herrschaft war
sehr gütig, und Herr von S. unterhielt sich oft lange mit ihm über
die Türkei, den österreichischen Dienst und die See. "Der Johannes
könnte viel erzählen", sagte er zu seiner Frau, "wenn er nicht
so grundeinfältig wäre." "Mehr tiefsinnig als einfältig",
versetzte sie; "ich fürchte immer er schnappt noch über." "Ei
bewahre!" antwortete der Baron, "er war sein Leben lang ein Simpel; simple
Leute werden nie verrückt."
Nach einiger
Zeit blieb Johannes auf einem Botengange über Gebühr lange aus.
Die gute Frau von S. war sehr besorgt um ihn und wollte schon Leute aussenden,
als man ihn die Treppe heraufstelzen hörte. "Du bist lange ausgeblieben,
Johannes" sagte sie; "ich dach-te schon, du hättest dich im Brederholz
verirrt." "Ich bin durch den Föhrengrund gegangen." "Das ist ja ein
weiter Umweg; warum gingst du nicht durchs Brederholz?" Er sah trübe
zu ihr auf: "Die Leute sagten mir, der Wald sei gefällt, und jetzt seien so viele Kreuz
und Querwege darin, da fürchtete ich, nicht wieder hinauszukommen.
Ich werde alt und duselig", fügte er langsam hinzu. "Sahst du wohl",
sagte Frau von S. nachher zu ihrem Manne, "wie wunderlich und quer er aus
den Augen sah ? Ich sage dir, Ernst, das nimmt noch ein schlimmes Ende."
Indessen nahte
der September heran. Die Felder waren leer, das Laub begann abzufallen,
und mancher Hektische fühlte die Schere an seinem Lebensfaden. Auch
Johannes schien unter dem Einflusse des nahen Äquinoktiums zu leiden;
die ihn in diesen Tagen sahen, sagen, er habe auffallend verstört ausgesehen
und unaufhörlich leise mit sich selber geredet, was er auch sonst
mitunter tat, aber selten. Endlich kam er eines Abends nicht nach Hause.
Man dachte, die Herrschaft habe ihn verschickt; am zweiten auch nicht;
am dritten Tage ward seine Hausfrau ängstlich. Sie ging ins Schloß
und fragte nach. "Gott bewahre", sagte der Gutsherr, "ich weiß nichts
von ihm; aber geschwind den Jäger gerufen und Försters Wilhelm!
Wenn der armselige Krüppel", setzte er bewegt hinzu, "auch nur in einen
trockenen Graben gefallen ist, so kann er nicht wieder heraus. Wer weiß,
ob er nicht gar eines von seinen schiefen Beinen gebrochen hat! Nehmt die
Hunde mit", rief er den abziehenden Jägern nach, "und sucht vor allem
in den Gräben; seht in die Steinbrüche!" rief er lauter. Die Träger
kehrten nach einigen Stunden heim; sie hatten keine Spur gefunden. Herr
von S. war in großer Unruhe: "Wenn ich mir denke, daß einer so
liegen muß wie ein Stein und kann sich nicht helfen! Aber er kann noch
leben; drei Tage hälts ein Mensch wohl ohne Nahrung aus." Er machte
sich selbst auf den Weg; in allen Häusern wurde nachgefragt, überall
in die Hörner geblasen, gerufen die Hunde zum Suchen angehetzt umsonst!
Ein Kind hatte ihn gesehen, wie er am Rande des Brederholzes saß und
an einem Löffel schnitzelte. "Er schnitt ihn aber ganz entzwei", sagte
das kleine Mädchen. Das war vor zwei Tagen gewesen. Nachmittags fand
sich wieder eine Spur: abermals ein Kind, das ihn an der anderen Seite des
Waldes bemerkt hatte, wo er im Gebüsch gesessen, das Gesicht auf den
Knien, als ob er schliefe. Das war noch am vorigen Tage. Es schien, er hatte
sich immer um das Brederholz herumgetrieben.
"Wenn nur das
verdammte Buschwerk nicht so dicht wäre! da kann keine Seele hindurch",
sagte der Gutsherr. Man trieb die Hunde in den jungen Schlag; man blies
und hallote und kehrte endlich mißvergnügt heim, als man sich
überzeugt, daß die Tiere den ganzen Wald abgesucht hatten. "Laßt
nicht nach! laßt nicht nach!" bat Frau von S.; "besser ein paar Schritte
umsonst, als daß etwas versäumt wird." Der Baron war fast ebenso
beängstigt wie sie. Seine Unruhe trieb ihn sogar nach Johannes' Wohnung,
obwohl er sicher war, ihn dort nicht zu finden. Er ließ sich die
Kammer des Verschollenen aufschließen. Da stand sein Bett noch ungemacht,
wie er es verlassen hatte, dort hing sein guter Rock, den ihm die gnädige
Frau aus dem alten Jagdkleide des Herrn hatte machen las-sen; auf dem
Tische ein Napf, sechs neue hölzerne Löffel und eine Schachtel.
Der Gutsherr öffnete sie; fünf Groschen lagen darin, sauber in
Papier gewickelt, und vier silberne Westenknöpfe; der Gutsherr betrachtete
sie aufmerksam. "Ein Andenken von Mergel", murmelte er und trat hinaus,
denn ihm ward ganz beengt in dem dumpfen, engen Käm-merchen. Die Nachsuchungen
wurden fortgesetzt, bis man sich überzeugt hatte, Johannes sei nicht
mehr in der Gegend, wenigstens nicht lebendig. So war er denn zum zweitenmal
verschwunden; ob man ihn wiederfinden würde vielleicht einmal nach
Jahren seine Knochen in einem trockenen Graben? Ihn lebend wiederzusehen,
dazu war wenig Hoffnung und jedenfalls nach achtundzwanzig Jahren gewiß
nicht.
Vierzehn Tage
später kehrte der junge Brandis morgens von einer Besichtigung seines
Reviers durch das Brederholz heim. Es war ein für die Jahreszeit ungewöhnlich
heißer Tag, die Luft zitterte, kein Vogel sang, nur die Raben krächzten
langweilig aus den Ästen und hielten ihre offenen Schnäbel
der Luft entgegen. Brandis war sehr ermüdet. Bald nahm er seine von
der Sonne durchglühte Kappe ab, bald setzte er sie wieder auf. Es
war alles gleich unerträglich, das Arbeiten durch den kniehohen Schlag
sehr beschwerlich. Ringsumher kein Baum außer der Judenbuche. Dahin
strebte er denn auch aus allen Kräften und ließ sich todmatt
auf das beschattete Moos darunter nieder. Die Kühle zog so angenehm
durch seine Glieder, daß er die Augen schloß. "Schändliche
Pilze!" murmelte er halb im Schlaf. Es gibt nämlich in jener Gegend
eine Art sehr saftiger Pilze, die nur ein paar Tage stehen, dann einfallen
und einen unerträglichen Geruch verbreiten. Brandis glaubte solche
unangenehmen Nachbarn zu spüren, er wandte sich ein paarmal hin und
her, mochte aber doch nicht aufstehen; sein Hund sprang unterdessen umher,
kratzte am Stamm der Buche und bellte hinauf. "Was hast du da Bello? Eine
Katze?" murmelte Brandis. Er öffnete die Wimper halb, und die Judenschrift
fiel ihm ins Auge, sehr ausgewachsen, aber doch noch ganz kenntlich. Er
schloß die Augen wieder; der Hund fuhr fort zu bellen und legte endlich
seinem Herrn die kalte Schnauze ans Gesicht. "Laß mich in Ruh! Was
hast du denn?" Hierbei sah Brandis, wie er so auf dem Rücken lag, in
die Höhe, sprang dann mit einem Satze auf und wie besessen ins Gestrüpp
hinein. Totenbleich kam er auf dem Schlosse an: in der Judenbuche hänge
ein Mensch; er habe die Beine gerade über seinem Gesichte hängen
sehen. "Und du hast ihn nicht abgeschnitten, Esel?" rief der Baron. "Herr",
keuchte Brandis, "wenn Ew. Gnaden dagewesen wären, so wüßten
Sie wohl daß der Mensch nicht mehr lebt. Ich glaubte anfangs, es seien
die Pilze!" Dennoch trieb der Gutsherr zur größten Eile und zog
selbst mit hinaus.
Sie waren unter
der Buche angelangt. "Ich sehe nichts", sagte Herr von S. "Hierher müssen
Sie treten, hierher, an diese Stelle!" Wirklich, dem war so: der Gutsherr
erkannte seine eigenen abgetragenen Schuhe. "Gott, es ist Johannes! Setzt
die Leiter an! So nun herunter! Sacht, sacht! Laßt ihn nicht fallen!
Lieber Himmel, die Würmer sind schon daran! Macht dennoch die Schlinge
auf und die Halsbinde." Eine breite Narbe ward sichtbar; der Gutsherr
fuhr zurück. "Mein Gott!" sagte er; er beugte sich wieder über
die Leiche, betrachtete die Narbe mit großer Aufmerksamkeit und schwieg
eine Weile in tiefer Erschütterung. Dann wandte er sich zu den Förstern:
"Es ist nicht recht, daß der Unschuldi-ge für den Schuldigen
leide; sagt es nur allen Leuten: der da" er deutete auf den Toten "war
Friedrich Mergel." Die Leiche ward auf dem Schindanger verscharrt.
Dies hat sich
nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September des Jahres
1789. Die hebräische Schrift an dem Baume heißt:
"Wenn du dich
diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast."
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